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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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und immer weiter treiben. Dem Wunder wird er durch die Ausdehnung des
Begriffs von Natur und Natürlichem, in welcher Beziehung "unsere Kenntniß
immer nur im Werden ist", wieder Raum schaffen, und wo er auch Dichtung
anerkennen muß, soll doch immer Thatsächliches zu Grunde liegen, das nicht
selten nach Art des gewöhnlichen Rationalismus aus den Texten herausgedeu¬
telt wird. Weil Schleiermacher, sagt Strauß treffend, in der Christologie Su-
Pranaturalist bleiben will, muß er in der Kritik und Exegese Rationalist sein.
Um den übernatürlichen Christus als geschichtliche Persönlichkeit nicht zu ver¬
lieren, darf er die Evangelien als geschichtliche Quelle nicht ausgeben. Um aber
">ehe einen übernatürlichen Christus in einem Sinne zu bekommen, in welchem
'hin das Uebernatürliche unannehmbar ist, muß er mittelst der Auslegung das
'hin anstößige Uebernatürliche aus den Evangelien entfernen. > ^

Ein solches Werk war recht eigentlich ein Gegenstand für die nachschaffende
Kritik eines Strauß. Mit der Achtung, welche dem aus dem Todtenreich wie¬
der heraufbeschworenen Theologen gebührt, aber mit unerbittlicher Schärfe un¬
tersucht er die Voraussetzungen, welche Schleiermacher zu seiner Aufgabe mit¬
bringt und folgt ihm dann mit ausdauernder Geduld durch alle Winkelzüge
einer feingesponnenen Dialektik, die Fäden entwirrend und bloßlegend, die
Gründe ansteckend, aus welchen eine an sich unmögliche Aufgabe scheitern
">ußte, immer wieder im Einzelnen nachweisend, wie falsche Prämissen zu fal¬
schen Resultaten führen. Aber es war nicht etwa der Ehrgeiz, an der Auf¬
trennung einer fremden Dialektik die Virtuosität der eigenen glänzen zu
^sser. was Strauß zu dieser Arbeit bewog, es war ein sehr praktisches In¬
teresse, das ihn über die lebenden Gegner hinweg zur Auseinandersetzung mit
ihrem geistigen Haupte trieb. Wir nannten das nachgelassene Werk von Schleier-
wacher einen Fremdling in den Kämpfen der Gegenwart. Wir müssen das
^ort zurücknehmen. Es ist im Gegentheil Quelle und Quintessenz jener ver¬
mittelnden Richtung, welche noch heute die Masse der theologischen Literatur
beherrscht. Obwohl bis jetzt verborgen gehalten, hatten diese Vorlesungen doch
fort und fort ihre Wirkung gethan; denn eine zahlreiche Zuhörerschaft zu des
Misters Füßen hatte sich mit den ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen
durchdrungen und diese in ihren Schriften weiter verbreitet.") Während sie
durch die Wissenschaft fast auf allen Punkten überholt wurden, hatten sie sich
der Theologenwelt immer mehr Eingang verschafft und so steht die Durch-
schniltsthcologie unserer Tage heute noch -- oder eigentlich erst jetzt recht --
"uf dem Standpunkt, den Schleiermacher geschaffen. Der Wahn, es müsse
Mischen .dem Natürlichen und dem Uebernatürlichen noch irgendeinen teriin-
uus meäius geben, Jesus könne ein Mensch im vollen Sinn des Worts und



') Strauß, Leben Jesu für das deutsche Volk. S. 23.

und immer weiter treiben. Dem Wunder wird er durch die Ausdehnung des
Begriffs von Natur und Natürlichem, in welcher Beziehung „unsere Kenntniß
immer nur im Werden ist", wieder Raum schaffen, und wo er auch Dichtung
anerkennen muß, soll doch immer Thatsächliches zu Grunde liegen, das nicht
selten nach Art des gewöhnlichen Rationalismus aus den Texten herausgedeu¬
telt wird. Weil Schleiermacher, sagt Strauß treffend, in der Christologie Su-
Pranaturalist bleiben will, muß er in der Kritik und Exegese Rationalist sein.
Um den übernatürlichen Christus als geschichtliche Persönlichkeit nicht zu ver¬
lieren, darf er die Evangelien als geschichtliche Quelle nicht ausgeben. Um aber
">ehe einen übernatürlichen Christus in einem Sinne zu bekommen, in welchem
'hin das Uebernatürliche unannehmbar ist, muß er mittelst der Auslegung das
'hin anstößige Uebernatürliche aus den Evangelien entfernen. > ^

Ein solches Werk war recht eigentlich ein Gegenstand für die nachschaffende
Kritik eines Strauß. Mit der Achtung, welche dem aus dem Todtenreich wie¬
der heraufbeschworenen Theologen gebührt, aber mit unerbittlicher Schärfe un¬
tersucht er die Voraussetzungen, welche Schleiermacher zu seiner Aufgabe mit¬
bringt und folgt ihm dann mit ausdauernder Geduld durch alle Winkelzüge
einer feingesponnenen Dialektik, die Fäden entwirrend und bloßlegend, die
Gründe ansteckend, aus welchen eine an sich unmögliche Aufgabe scheitern
">ußte, immer wieder im Einzelnen nachweisend, wie falsche Prämissen zu fal¬
schen Resultaten führen. Aber es war nicht etwa der Ehrgeiz, an der Auf¬
trennung einer fremden Dialektik die Virtuosität der eigenen glänzen zu
^sser. was Strauß zu dieser Arbeit bewog, es war ein sehr praktisches In¬
teresse, das ihn über die lebenden Gegner hinweg zur Auseinandersetzung mit
ihrem geistigen Haupte trieb. Wir nannten das nachgelassene Werk von Schleier-
wacher einen Fremdling in den Kämpfen der Gegenwart. Wir müssen das
^ort zurücknehmen. Es ist im Gegentheil Quelle und Quintessenz jener ver¬
mittelnden Richtung, welche noch heute die Masse der theologischen Literatur
beherrscht. Obwohl bis jetzt verborgen gehalten, hatten diese Vorlesungen doch
fort und fort ihre Wirkung gethan; denn eine zahlreiche Zuhörerschaft zu des
Misters Füßen hatte sich mit den ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen
durchdrungen und diese in ihren Schriften weiter verbreitet.") Während sie
durch die Wissenschaft fast auf allen Punkten überholt wurden, hatten sie sich
der Theologenwelt immer mehr Eingang verschafft und so steht die Durch-
schniltsthcologie unserer Tage heute noch — oder eigentlich erst jetzt recht —
"uf dem Standpunkt, den Schleiermacher geschaffen. Der Wahn, es müsse
Mischen .dem Natürlichen und dem Uebernatürlichen noch irgendeinen teriin-
uus meäius geben, Jesus könne ein Mensch im vollen Sinn des Worts und



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[0475] und immer weiter treiben. Dem Wunder wird er durch die Ausdehnung des Begriffs von Natur und Natürlichem, in welcher Beziehung „unsere Kenntniß immer nur im Werden ist", wieder Raum schaffen, und wo er auch Dichtung anerkennen muß, soll doch immer Thatsächliches zu Grunde liegen, das nicht selten nach Art des gewöhnlichen Rationalismus aus den Texten herausgedeu¬ telt wird. Weil Schleiermacher, sagt Strauß treffend, in der Christologie Su- Pranaturalist bleiben will, muß er in der Kritik und Exegese Rationalist sein. Um den übernatürlichen Christus als geschichtliche Persönlichkeit nicht zu ver¬ lieren, darf er die Evangelien als geschichtliche Quelle nicht ausgeben. Um aber ">ehe einen übernatürlichen Christus in einem Sinne zu bekommen, in welchem 'hin das Uebernatürliche unannehmbar ist, muß er mittelst der Auslegung das 'hin anstößige Uebernatürliche aus den Evangelien entfernen. > ^ Ein solches Werk war recht eigentlich ein Gegenstand für die nachschaffende Kritik eines Strauß. Mit der Achtung, welche dem aus dem Todtenreich wie¬ der heraufbeschworenen Theologen gebührt, aber mit unerbittlicher Schärfe un¬ tersucht er die Voraussetzungen, welche Schleiermacher zu seiner Aufgabe mit¬ bringt und folgt ihm dann mit ausdauernder Geduld durch alle Winkelzüge einer feingesponnenen Dialektik, die Fäden entwirrend und bloßlegend, die Gründe ansteckend, aus welchen eine an sich unmögliche Aufgabe scheitern ">ußte, immer wieder im Einzelnen nachweisend, wie falsche Prämissen zu fal¬ schen Resultaten führen. Aber es war nicht etwa der Ehrgeiz, an der Auf¬ trennung einer fremden Dialektik die Virtuosität der eigenen glänzen zu ^sser. was Strauß zu dieser Arbeit bewog, es war ein sehr praktisches In¬ teresse, das ihn über die lebenden Gegner hinweg zur Auseinandersetzung mit ihrem geistigen Haupte trieb. Wir nannten das nachgelassene Werk von Schleier- wacher einen Fremdling in den Kämpfen der Gegenwart. Wir müssen das ^ort zurücknehmen. Es ist im Gegentheil Quelle und Quintessenz jener ver¬ mittelnden Richtung, welche noch heute die Masse der theologischen Literatur beherrscht. Obwohl bis jetzt verborgen gehalten, hatten diese Vorlesungen doch fort und fort ihre Wirkung gethan; denn eine zahlreiche Zuhörerschaft zu des Misters Füßen hatte sich mit den ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen durchdrungen und diese in ihren Schriften weiter verbreitet.") Während sie durch die Wissenschaft fast auf allen Punkten überholt wurden, hatten sie sich der Theologenwelt immer mehr Eingang verschafft und so steht die Durch- schniltsthcologie unserer Tage heute noch — oder eigentlich erst jetzt recht — "uf dem Standpunkt, den Schleiermacher geschaffen. Der Wahn, es müsse Mischen .dem Natürlichen und dem Uebernatürlichen noch irgendeinen teriin- uus meäius geben, Jesus könne ein Mensch im vollen Sinn des Worts und ') Strauß, Leben Jesu für das deutsche Volk. S. 23.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/475>, abgerufen am 23.07.2024.