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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Von den vier Aufsätzen des zweiten Bandes erwähnen wir zuerst den
letzten, von Herrn Professor Kosegarten in Gratz: "Die Volkswahlen und die
Volksherrschaft in ihren politischen und socialen Wirkungen. Mit besonderer
Beziehung auf die Jetztzeit." Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des
Constitutionalismus. ein Bewunderer der absoluten Monarchie auf der Grund¬
lage mittelalterlicher Ständeeinrichtungen. Es wäre zu wünschen gewesen, daß
der konservative Standpunkt in diesem Buche in einer wenigstens eine Discussion
ermöglichenden Weise vertreten wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Nur um
unser Urtheil zu begründen. greifen wir aufs Gerathewohl einige Ansichten und
Behauptungen aus der Abhandlung heraus: Der Kampf der Whigs und
Torys wird als ein Kampf der Bourgeoisie und Aristokratie dargestellt; mit
Wohlgefallen wird erwähnt, daß ein gut unterrichteter englischer Geschicht¬
schreiber die Regierung der Elisabeth eine greuliche nennt; ein" der Haupt¬
ursachen zum Sturze des streng gewissenhaften Jakobs des Zweiten war, daß
die Besitzer ehemaliger Kirchengüter, weil er Katholik war, nicht ruhig schlafen
konnten; England steht vor einem Bürgerkriege der Reichen und Proletarier,
(mit Berufung auf Bucher und eine wohl mißverstandene Stelle von Gneist).
-- In Frankreich trug vor der Revolution den größten Theil der Abgaben der
Adel mit den Landleuten ohne Unterschied; die großen äons gratuits der Geist¬
lichkeit hatten deren Verschuldung zur Folge. (Wir empfehlen zur Vergleichung
Sybel, Gesch. d. Revol.-Zeitalters zweite Auflage S. 119: Aus einer Jahres-
einnahme von 100 Mill. Zehnten und 60 bis 70 Mill. Güterertrag hatte er
(der Klerus) bisher nicht sehr regelmäßig dem Staate eine Steuer von 3 bis 4
Mill. gezahlt und die der Kirche anvertrauten öffentlichen Bedürfnisse des Unter-
richts und der Armenpflege sehr unzulänglich besorgt. -- Begeistert ist der
Verfasser für das ständische Wesen, in welchem unter anderm jeder Bauer" von
seinem Grundherrn vertreten wird, "wie es noch jetzt in Mecklenburg, einem
der glücklichsten deutschen Länder, der Fall ist." -- Auch auf die östreichische
Verfassung ist der Aussatz nicht besonders gut zu sprechen. Unter die Schatten-
seiten des östreichischen Verfassungsrechtes rechnet der Verfasser "den Mangel
einer gewissen nothwendigen Begrenzung des Mitwirtungsrechtes bei der Ge¬
setzgebung." In Bezug auf die Schleswig-holsteinische Frage will er nicht er¬
örtern, ob ein genügender Grund zum Kriege mit Dänemark vorhanden war,
ist jedoch der Meinung, daß. wenn der hauptsächliche Grund dieses Krieges in
der Nachgiebigkeit der Regierungen den Volksabgeordneten und Demagogen
gegenüber zu suchen sein sollte, dadurch ein Beispiel gegeben sein würde, welches
die traurigsten Folgen für die zunächst bevorstehende Zukunft Europas ahnen
lassen müßte. Besonders schlimme Folgen fürchtet die Phantasie des Herrn
Verfassers auch von einer etwaigen Aufhebung der Büchercensur in Rußland.
Die Spekulation oder die Propaganda würde nämlich nicht verfehlen, das be-


Grcnzboten I. 18KS. 35

Von den vier Aufsätzen des zweiten Bandes erwähnen wir zuerst den
letzten, von Herrn Professor Kosegarten in Gratz: „Die Volkswahlen und die
Volksherrschaft in ihren politischen und socialen Wirkungen. Mit besonderer
Beziehung auf die Jetztzeit." Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des
Constitutionalismus. ein Bewunderer der absoluten Monarchie auf der Grund¬
lage mittelalterlicher Ständeeinrichtungen. Es wäre zu wünschen gewesen, daß
der konservative Standpunkt in diesem Buche in einer wenigstens eine Discussion
ermöglichenden Weise vertreten wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Nur um
unser Urtheil zu begründen. greifen wir aufs Gerathewohl einige Ansichten und
Behauptungen aus der Abhandlung heraus: Der Kampf der Whigs und
Torys wird als ein Kampf der Bourgeoisie und Aristokratie dargestellt; mit
Wohlgefallen wird erwähnt, daß ein gut unterrichteter englischer Geschicht¬
schreiber die Regierung der Elisabeth eine greuliche nennt; ein« der Haupt¬
ursachen zum Sturze des streng gewissenhaften Jakobs des Zweiten war, daß
die Besitzer ehemaliger Kirchengüter, weil er Katholik war, nicht ruhig schlafen
konnten; England steht vor einem Bürgerkriege der Reichen und Proletarier,
(mit Berufung auf Bucher und eine wohl mißverstandene Stelle von Gneist).
— In Frankreich trug vor der Revolution den größten Theil der Abgaben der
Adel mit den Landleuten ohne Unterschied; die großen äons gratuits der Geist¬
lichkeit hatten deren Verschuldung zur Folge. (Wir empfehlen zur Vergleichung
Sybel, Gesch. d. Revol.-Zeitalters zweite Auflage S. 119: Aus einer Jahres-
einnahme von 100 Mill. Zehnten und 60 bis 70 Mill. Güterertrag hatte er
(der Klerus) bisher nicht sehr regelmäßig dem Staate eine Steuer von 3 bis 4
Mill. gezahlt und die der Kirche anvertrauten öffentlichen Bedürfnisse des Unter-
richts und der Armenpflege sehr unzulänglich besorgt. — Begeistert ist der
Verfasser für das ständische Wesen, in welchem unter anderm jeder Bauer» von
seinem Grundherrn vertreten wird, „wie es noch jetzt in Mecklenburg, einem
der glücklichsten deutschen Länder, der Fall ist." — Auch auf die östreichische
Verfassung ist der Aussatz nicht besonders gut zu sprechen. Unter die Schatten-
seiten des östreichischen Verfassungsrechtes rechnet der Verfasser „den Mangel
einer gewissen nothwendigen Begrenzung des Mitwirtungsrechtes bei der Ge¬
setzgebung." In Bezug auf die Schleswig-holsteinische Frage will er nicht er¬
örtern, ob ein genügender Grund zum Kriege mit Dänemark vorhanden war,
ist jedoch der Meinung, daß. wenn der hauptsächliche Grund dieses Krieges in
der Nachgiebigkeit der Regierungen den Volksabgeordneten und Demagogen
gegenüber zu suchen sein sollte, dadurch ein Beispiel gegeben sein würde, welches
die traurigsten Folgen für die zunächst bevorstehende Zukunft Europas ahnen
lassen müßte. Besonders schlimme Folgen fürchtet die Phantasie des Herrn
Verfassers auch von einer etwaigen Aufhebung der Büchercensur in Rußland.
Die Spekulation oder die Propaganda würde nämlich nicht verfehlen, das be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/291>, abgerufen am 23.07.2024.