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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Noth und den Zufall der Wirklichkeit abgestreift haben, dagegen ihre unver¬
gängliche beseelte Gestalt in leuchtender Erscheinung widerspiegeln: so hat sie
vorab das öffentliche Leben, die großen Formen des allgemeinen Daseins zu
einem Denkmal zu gestalten, in welchem sich der Geist als in seinem idealen,
verklärten Leib wiederfindet. Wie demnach in der monumentalen Kunst das
Einzelleben in die lichte Welt des Gcsammtlebens hinausgehoben ist. so ist auch
zu ihrer Betrachtung nicht blos der Einzelne, sondern das ganze Volk berufen.
Auf diesem Wege allein kann in dem letzteren eine Anschauung sich bilden,
welche in der Kunst den idealen Schein des Daseins mit freiem, über die mühe¬
volle Wirklichkeit hinausgehobenem Sinn zu genießen versteht und dann wiederum
für den Künstler den fruchtbaren Schooß abgiebt, aus dessen dunklem Grunde
seine Pliantasie neue Bildungen und Gestalten herausarbeitet. Voraus die mo¬
numentale Kunst stellt zwischen dem Schaffenden und dem Beschauer eine leben"
tige Wechselwirkung her, welche die Werte des Einen in die beseelende Em¬
pfindung des Andern und aus dieser neue Kräfte, neue Anregungen in jenen
hinüberleitet. So wird allmälig die wirkliche ganze Welt zum Bilde, des Volkes
That und Arbeit zur schönen Erscheinung, in der sie ihm unvermerkt zum reinen
Genuß des Lebens umschlagen. Und nicht blos ein Denkmal seines realen
Daseins wird so die Kunst, sondern sie selber eine zweite vom Drang des
Augenblicks und dem unruhigen Wechsel der Materie befreite wirkliche Welt,
in welcher der Kampf des Lebens sich spielend wiederholt und so alle mensch¬
lichen Kräfte ungebrochen und unzerstückt ihre volle Befriedigung finden. Nur
aus diesem monumentalen Boden, auf dem sich in großen Zügen das ganze
Leben gestaltet, empfängt die Kunst überhaupt die Fähigkeit, alles Wirkliche im
Bilde widerzuspiegeln; nur auf ihm entwickelt sich eine eigenthümliche und ge¬
meinsame Anschauungsweise. -- das, was wir Stil nennen -- die sich ebenso
im Kabinetsstück wie im Staatsgebäude ihren Ausdruck giebt. Und nur aus
diesem Wege kommt in die ganze. Kunst ein Zug des Gestaltens, der in das
Kleine wie in das Große den Athem und Schwung des Lebens bringt und
alle ihre Schöpfungen zu einem rcichgegliederren Ganzen aneinander reiht.

Doch niemand wird erwarten, daß dieses Ideal des Kunstlebens in unserer
Zeit sich verwirkliche. Nur zu oft ist es ausgesprochen, daß die Interessen, welche
unsere Welt bewegen, der künstlerischen Darstellung nicht blos fremd und spröde,
sondern geradezu widerstrebend entgegenstehen. Wir ringen nach einer neuen,
Gesittung und nach neuen gesellschaftlichen Zuständen, die wir auf allgemeiner
Bildung und Wohlfahrt aufbauen wollen, nach einem neuen politischen Dasein,
das mit starker nationaler Macht die Freiheit individueller Entwicklung ver¬
binden soll. Aber noch sind wir kaum über den Anfang des Weges hinaus,
und alles treibt und drängt sich in unfertiger Gährung; was kaum in
dem einen Moment Gestalt gewonnen, fällt im nächsten zu neuem Werden


Noth und den Zufall der Wirklichkeit abgestreift haben, dagegen ihre unver¬
gängliche beseelte Gestalt in leuchtender Erscheinung widerspiegeln: so hat sie
vorab das öffentliche Leben, die großen Formen des allgemeinen Daseins zu
einem Denkmal zu gestalten, in welchem sich der Geist als in seinem idealen,
verklärten Leib wiederfindet. Wie demnach in der monumentalen Kunst das
Einzelleben in die lichte Welt des Gcsammtlebens hinausgehoben ist. so ist auch
zu ihrer Betrachtung nicht blos der Einzelne, sondern das ganze Volk berufen.
Auf diesem Wege allein kann in dem letzteren eine Anschauung sich bilden,
welche in der Kunst den idealen Schein des Daseins mit freiem, über die mühe¬
volle Wirklichkeit hinausgehobenem Sinn zu genießen versteht und dann wiederum
für den Künstler den fruchtbaren Schooß abgiebt, aus dessen dunklem Grunde
seine Pliantasie neue Bildungen und Gestalten herausarbeitet. Voraus die mo¬
numentale Kunst stellt zwischen dem Schaffenden und dem Beschauer eine leben"
tige Wechselwirkung her, welche die Werte des Einen in die beseelende Em¬
pfindung des Andern und aus dieser neue Kräfte, neue Anregungen in jenen
hinüberleitet. So wird allmälig die wirkliche ganze Welt zum Bilde, des Volkes
That und Arbeit zur schönen Erscheinung, in der sie ihm unvermerkt zum reinen
Genuß des Lebens umschlagen. Und nicht blos ein Denkmal seines realen
Daseins wird so die Kunst, sondern sie selber eine zweite vom Drang des
Augenblicks und dem unruhigen Wechsel der Materie befreite wirkliche Welt,
in welcher der Kampf des Lebens sich spielend wiederholt und so alle mensch¬
lichen Kräfte ungebrochen und unzerstückt ihre volle Befriedigung finden. Nur
aus diesem monumentalen Boden, auf dem sich in großen Zügen das ganze
Leben gestaltet, empfängt die Kunst überhaupt die Fähigkeit, alles Wirkliche im
Bilde widerzuspiegeln; nur auf ihm entwickelt sich eine eigenthümliche und ge¬
meinsame Anschauungsweise. — das, was wir Stil nennen — die sich ebenso
im Kabinetsstück wie im Staatsgebäude ihren Ausdruck giebt. Und nur aus
diesem Wege kommt in die ganze. Kunst ein Zug des Gestaltens, der in das
Kleine wie in das Große den Athem und Schwung des Lebens bringt und
alle ihre Schöpfungen zu einem rcichgegliederren Ganzen aneinander reiht.

Doch niemand wird erwarten, daß dieses Ideal des Kunstlebens in unserer
Zeit sich verwirkliche. Nur zu oft ist es ausgesprochen, daß die Interessen, welche
unsere Welt bewegen, der künstlerischen Darstellung nicht blos fremd und spröde,
sondern geradezu widerstrebend entgegenstehen. Wir ringen nach einer neuen,
Gesittung und nach neuen gesellschaftlichen Zuständen, die wir auf allgemeiner
Bildung und Wohlfahrt aufbauen wollen, nach einem neuen politischen Dasein,
das mit starker nationaler Macht die Freiheit individueller Entwicklung ver¬
binden soll. Aber noch sind wir kaum über den Anfang des Weges hinaus,
und alles treibt und drängt sich in unfertiger Gährung; was kaum in
dem einen Moment Gestalt gewonnen, fällt im nächsten zu neuem Werden


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[0016] Noth und den Zufall der Wirklichkeit abgestreift haben, dagegen ihre unver¬ gängliche beseelte Gestalt in leuchtender Erscheinung widerspiegeln: so hat sie vorab das öffentliche Leben, die großen Formen des allgemeinen Daseins zu einem Denkmal zu gestalten, in welchem sich der Geist als in seinem idealen, verklärten Leib wiederfindet. Wie demnach in der monumentalen Kunst das Einzelleben in die lichte Welt des Gcsammtlebens hinausgehoben ist. so ist auch zu ihrer Betrachtung nicht blos der Einzelne, sondern das ganze Volk berufen. Auf diesem Wege allein kann in dem letzteren eine Anschauung sich bilden, welche in der Kunst den idealen Schein des Daseins mit freiem, über die mühe¬ volle Wirklichkeit hinausgehobenem Sinn zu genießen versteht und dann wiederum für den Künstler den fruchtbaren Schooß abgiebt, aus dessen dunklem Grunde seine Pliantasie neue Bildungen und Gestalten herausarbeitet. Voraus die mo¬ numentale Kunst stellt zwischen dem Schaffenden und dem Beschauer eine leben" tige Wechselwirkung her, welche die Werte des Einen in die beseelende Em¬ pfindung des Andern und aus dieser neue Kräfte, neue Anregungen in jenen hinüberleitet. So wird allmälig die wirkliche ganze Welt zum Bilde, des Volkes That und Arbeit zur schönen Erscheinung, in der sie ihm unvermerkt zum reinen Genuß des Lebens umschlagen. Und nicht blos ein Denkmal seines realen Daseins wird so die Kunst, sondern sie selber eine zweite vom Drang des Augenblicks und dem unruhigen Wechsel der Materie befreite wirkliche Welt, in welcher der Kampf des Lebens sich spielend wiederholt und so alle mensch¬ lichen Kräfte ungebrochen und unzerstückt ihre volle Befriedigung finden. Nur aus diesem monumentalen Boden, auf dem sich in großen Zügen das ganze Leben gestaltet, empfängt die Kunst überhaupt die Fähigkeit, alles Wirkliche im Bilde widerzuspiegeln; nur auf ihm entwickelt sich eine eigenthümliche und ge¬ meinsame Anschauungsweise. — das, was wir Stil nennen — die sich ebenso im Kabinetsstück wie im Staatsgebäude ihren Ausdruck giebt. Und nur aus diesem Wege kommt in die ganze. Kunst ein Zug des Gestaltens, der in das Kleine wie in das Große den Athem und Schwung des Lebens bringt und alle ihre Schöpfungen zu einem rcichgegliederren Ganzen aneinander reiht. Doch niemand wird erwarten, daß dieses Ideal des Kunstlebens in unserer Zeit sich verwirkliche. Nur zu oft ist es ausgesprochen, daß die Interessen, welche unsere Welt bewegen, der künstlerischen Darstellung nicht blos fremd und spröde, sondern geradezu widerstrebend entgegenstehen. Wir ringen nach einer neuen, Gesittung und nach neuen gesellschaftlichen Zuständen, die wir auf allgemeiner Bildung und Wohlfahrt aufbauen wollen, nach einem neuen politischen Dasein, das mit starker nationaler Macht die Freiheit individueller Entwicklung ver¬ binden soll. Aber noch sind wir kaum über den Anfang des Weges hinaus, und alles treibt und drängt sich in unfertiger Gährung; was kaum in dem einen Moment Gestalt gewonnen, fällt im nächsten zu neuem Werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/16>, abgerufen am 23.07.2024.