Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

vielmehr nothwendig der sein müsse, der er selbst ist, der Mann dus Opfers,
da im Reich Gottes nichts großer ist als den Brüdern zu dienen und für '.sie
zu sterben. Oder aber -- die andere Möglichkeit -- Jesus, der sich seit lauge
als der große Religionsstifter der Menschheit fühlt, nimmt nicht ohne Wider¬
streben den Titel Messias an, als denjenigen, der im Geist der Jünger am
leidlichsten seiner Mission entspricht, nur daß er sofort die Perspektive des
Martyriums eröffnet, und er muß sich für den Messias erklären, damit sie
aufhöre" einen anderen zu erwarten. Nach der letzteren Ansicht accommodirt sich
also das Evangelium äußerlich dem Messianismus aus Rücksicht auf die Schwäche
der Jünger. Nach der andern wandelt das Evangelium den Messianismus um,
asstmilirt ihn sich, behält den Namen, der aber einen Völlig anderen Inhalt
bekommen hat und wirft das Andere zur Seite. Welche von beiden Erklärungen
hat mehr Wahrscheinlichkeit? Aber, fahrt Colani fort, muß man nothwendig
zwischen beiden wählen? Das geistige Leben, insbesondere das der Größten und
Besten, spottet unserer Classificationen, es ist weiter, complicirter und zugleich
spontaner. Gewiß, seitdem Jesus sich als wahres Haupt des Reichs Gottes
fühlte, mußte er sich fragen, ob außer ihm Raum für einen Messias sei, er
mußte sich sagen, daß der einzige Messias, den in Wahrheit die Propheten
ankündigen konnten, nur er war, der Mann der Schmerzen. Aber andrerseits
konnte er diesen Titel, der nichts zu seinem Ruhm hinzufügte, nur in Rücksicht
auf die Jünger annehmen, weil er in ihren Augen, wenn er nicht der Messias
war, auch nicht ihr oberstes Haupt sein konnte. Es war also beides zugleich,
eine Vergeistigung der Messiasidee und eine Accommodation.

Es ist also schließlich nur die bedenkliche Accommvdationstheorie, durch welche
Colani seine Hypothese zu stützen vermag, -- bedenklich, weil sie Jesus den
Jüngern gegenüber einen bedeutsamen Titel annehmen läßt, den er nach den
übrigen Voraussetzungen sich nicht mit voller Ueberzeugung aneignen konnte.
Hat Jesus sich die Messiasidee angeeignet, so mußte dies, wie Strauß sich
ausdrückt, im Wesen eine innerlich entsprechende That sein. Umgekehrt, je höher
wir Jesus mit seinen Ideen vom Gottesreich stellen, um so schwieriger ist zu
erklären, wie er sich in die Rolle des Messias hineindenken konnte. Die Frage:
wie konnte Jesus einen unter jenen Voraussetzungen so mißverständliche" Titel
cnnrehmen, der auch in der That mißverstände" worde" ist. so daß die Folgen
des Mißverständnisses heute noch nachwirken, ist nicht beantwortet und sie wird
nicht zu beantworten sein, wenn es nicht gelingt, schärfer als bisher geschehen
ist. vom Bewußtsein Jesu dasjenige auszuscheiden, was erst das Bewußtsein
der Jünger nach der großen Krisis der Auferstchungsvisionen in dasselbe hinein¬
gelegt hat. Es treibt an diesem Punkt noch eine Art von Hacmvnistck >hr
Wesen, die ebenso zu beseitigen ist wie auf dem Gebiet der Evangelienkiitik.

Zu dieser Aufgabe hat aber Colani selbst am Schlüsse seines Buchs einen


vielmehr nothwendig der sein müsse, der er selbst ist, der Mann dus Opfers,
da im Reich Gottes nichts großer ist als den Brüdern zu dienen und für '.sie
zu sterben. Oder aber — die andere Möglichkeit — Jesus, der sich seit lauge
als der große Religionsstifter der Menschheit fühlt, nimmt nicht ohne Wider¬
streben den Titel Messias an, als denjenigen, der im Geist der Jünger am
leidlichsten seiner Mission entspricht, nur daß er sofort die Perspektive des
Martyriums eröffnet, und er muß sich für den Messias erklären, damit sie
aufhöre» einen anderen zu erwarten. Nach der letzteren Ansicht accommodirt sich
also das Evangelium äußerlich dem Messianismus aus Rücksicht auf die Schwäche
der Jünger. Nach der andern wandelt das Evangelium den Messianismus um,
asstmilirt ihn sich, behält den Namen, der aber einen Völlig anderen Inhalt
bekommen hat und wirft das Andere zur Seite. Welche von beiden Erklärungen
hat mehr Wahrscheinlichkeit? Aber, fahrt Colani fort, muß man nothwendig
zwischen beiden wählen? Das geistige Leben, insbesondere das der Größten und
Besten, spottet unserer Classificationen, es ist weiter, complicirter und zugleich
spontaner. Gewiß, seitdem Jesus sich als wahres Haupt des Reichs Gottes
fühlte, mußte er sich fragen, ob außer ihm Raum für einen Messias sei, er
mußte sich sagen, daß der einzige Messias, den in Wahrheit die Propheten
ankündigen konnten, nur er war, der Mann der Schmerzen. Aber andrerseits
konnte er diesen Titel, der nichts zu seinem Ruhm hinzufügte, nur in Rücksicht
auf die Jünger annehmen, weil er in ihren Augen, wenn er nicht der Messias
war, auch nicht ihr oberstes Haupt sein konnte. Es war also beides zugleich,
eine Vergeistigung der Messiasidee und eine Accommodation.

Es ist also schließlich nur die bedenkliche Accommvdationstheorie, durch welche
Colani seine Hypothese zu stützen vermag, — bedenklich, weil sie Jesus den
Jüngern gegenüber einen bedeutsamen Titel annehmen läßt, den er nach den
übrigen Voraussetzungen sich nicht mit voller Ueberzeugung aneignen konnte.
Hat Jesus sich die Messiasidee angeeignet, so mußte dies, wie Strauß sich
ausdrückt, im Wesen eine innerlich entsprechende That sein. Umgekehrt, je höher
wir Jesus mit seinen Ideen vom Gottesreich stellen, um so schwieriger ist zu
erklären, wie er sich in die Rolle des Messias hineindenken konnte. Die Frage:
wie konnte Jesus einen unter jenen Voraussetzungen so mißverständliche» Titel
cnnrehmen, der auch in der That mißverstände» worde» ist. so daß die Folgen
des Mißverständnisses heute noch nachwirken, ist nicht beantwortet und sie wird
nicht zu beantworten sein, wenn es nicht gelingt, schärfer als bisher geschehen
ist. vom Bewußtsein Jesu dasjenige auszuscheiden, was erst das Bewußtsein
der Jünger nach der großen Krisis der Auferstchungsvisionen in dasselbe hinein¬
gelegt hat. Es treibt an diesem Punkt noch eine Art von Hacmvnistck >hr
Wesen, die ebenso zu beseitigen ist wie auf dem Gebiet der Evangelienkiitik.

Zu dieser Aufgabe hat aber Colani selbst am Schlüsse seines Buchs einen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282388"/>
          <p xml:id="ID_341" prev="#ID_340"> vielmehr nothwendig der sein müsse, der er selbst ist, der Mann dus Opfers,<lb/>
da im Reich Gottes nichts großer ist als den Brüdern zu dienen und für '.sie<lb/>
zu sterben. Oder aber &#x2014; die andere Möglichkeit &#x2014; Jesus, der sich seit lauge<lb/>
als der große Religionsstifter der Menschheit fühlt, nimmt nicht ohne Wider¬<lb/>
streben den Titel Messias an, als denjenigen, der im Geist der Jünger am<lb/>
leidlichsten seiner Mission entspricht, nur daß er sofort die Perspektive des<lb/>
Martyriums eröffnet, und er muß sich für den Messias erklären, damit sie<lb/>
aufhöre» einen anderen zu erwarten. Nach der letzteren Ansicht accommodirt sich<lb/>
also das Evangelium äußerlich dem Messianismus aus Rücksicht auf die Schwäche<lb/>
der Jünger. Nach der andern wandelt das Evangelium den Messianismus um,<lb/>
asstmilirt ihn sich, behält den Namen, der aber einen Völlig anderen Inhalt<lb/>
bekommen hat und wirft das Andere zur Seite. Welche von beiden Erklärungen<lb/>
hat mehr Wahrscheinlichkeit? Aber, fahrt Colani fort, muß man nothwendig<lb/>
zwischen beiden wählen? Das geistige Leben, insbesondere das der Größten und<lb/>
Besten, spottet unserer Classificationen, es ist weiter, complicirter und zugleich<lb/>
spontaner. Gewiß, seitdem Jesus sich als wahres Haupt des Reichs Gottes<lb/>
fühlte, mußte er sich fragen, ob außer ihm Raum für einen Messias sei, er<lb/>
mußte sich sagen, daß der einzige Messias, den in Wahrheit die Propheten<lb/>
ankündigen konnten, nur er war, der Mann der Schmerzen. Aber andrerseits<lb/>
konnte er diesen Titel, der nichts zu seinem Ruhm hinzufügte, nur in Rücksicht<lb/>
auf die Jünger annehmen, weil er in ihren Augen, wenn er nicht der Messias<lb/>
war, auch nicht ihr oberstes Haupt sein konnte. Es war also beides zugleich,<lb/>
eine Vergeistigung der Messiasidee und eine Accommodation.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_342"> Es ist also schließlich nur die bedenkliche Accommvdationstheorie, durch welche<lb/>
Colani seine Hypothese zu stützen vermag, &#x2014; bedenklich, weil sie Jesus den<lb/>
Jüngern gegenüber einen bedeutsamen Titel annehmen läßt, den er nach den<lb/>
übrigen Voraussetzungen sich nicht mit voller Ueberzeugung aneignen konnte.<lb/>
Hat Jesus sich die Messiasidee angeeignet, so mußte dies, wie Strauß sich<lb/>
ausdrückt, im Wesen eine innerlich entsprechende That sein. Umgekehrt, je höher<lb/>
wir Jesus mit seinen Ideen vom Gottesreich stellen, um so schwieriger ist zu<lb/>
erklären, wie er sich in die Rolle des Messias hineindenken konnte. Die Frage:<lb/>
wie konnte Jesus einen unter jenen Voraussetzungen so mißverständliche» Titel<lb/>
cnnrehmen, der auch in der That mißverstände» worde» ist. so daß die Folgen<lb/>
des Mißverständnisses heute noch nachwirken, ist nicht beantwortet und sie wird<lb/>
nicht zu beantworten sein, wenn es nicht gelingt, schärfer als bisher geschehen<lb/>
ist. vom Bewußtsein Jesu dasjenige auszuscheiden, was erst das Bewußtsein<lb/>
der Jünger nach der großen Krisis der Auferstchungsvisionen in dasselbe hinein¬<lb/>
gelegt hat. Es treibt an diesem Punkt noch eine Art von Hacmvnistck &gt;hr<lb/>
Wesen, die ebenso zu beseitigen ist wie auf dem Gebiet der Evangelienkiitik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_343" next="#ID_344"> Zu dieser Aufgabe hat aber Colani selbst am Schlüsse seines Buchs einen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0147] vielmehr nothwendig der sein müsse, der er selbst ist, der Mann dus Opfers, da im Reich Gottes nichts großer ist als den Brüdern zu dienen und für '.sie zu sterben. Oder aber — die andere Möglichkeit — Jesus, der sich seit lauge als der große Religionsstifter der Menschheit fühlt, nimmt nicht ohne Wider¬ streben den Titel Messias an, als denjenigen, der im Geist der Jünger am leidlichsten seiner Mission entspricht, nur daß er sofort die Perspektive des Martyriums eröffnet, und er muß sich für den Messias erklären, damit sie aufhöre» einen anderen zu erwarten. Nach der letzteren Ansicht accommodirt sich also das Evangelium äußerlich dem Messianismus aus Rücksicht auf die Schwäche der Jünger. Nach der andern wandelt das Evangelium den Messianismus um, asstmilirt ihn sich, behält den Namen, der aber einen Völlig anderen Inhalt bekommen hat und wirft das Andere zur Seite. Welche von beiden Erklärungen hat mehr Wahrscheinlichkeit? Aber, fahrt Colani fort, muß man nothwendig zwischen beiden wählen? Das geistige Leben, insbesondere das der Größten und Besten, spottet unserer Classificationen, es ist weiter, complicirter und zugleich spontaner. Gewiß, seitdem Jesus sich als wahres Haupt des Reichs Gottes fühlte, mußte er sich fragen, ob außer ihm Raum für einen Messias sei, er mußte sich sagen, daß der einzige Messias, den in Wahrheit die Propheten ankündigen konnten, nur er war, der Mann der Schmerzen. Aber andrerseits konnte er diesen Titel, der nichts zu seinem Ruhm hinzufügte, nur in Rücksicht auf die Jünger annehmen, weil er in ihren Augen, wenn er nicht der Messias war, auch nicht ihr oberstes Haupt sein konnte. Es war also beides zugleich, eine Vergeistigung der Messiasidee und eine Accommodation. Es ist also schließlich nur die bedenkliche Accommvdationstheorie, durch welche Colani seine Hypothese zu stützen vermag, — bedenklich, weil sie Jesus den Jüngern gegenüber einen bedeutsamen Titel annehmen läßt, den er nach den übrigen Voraussetzungen sich nicht mit voller Ueberzeugung aneignen konnte. Hat Jesus sich die Messiasidee angeeignet, so mußte dies, wie Strauß sich ausdrückt, im Wesen eine innerlich entsprechende That sein. Umgekehrt, je höher wir Jesus mit seinen Ideen vom Gottesreich stellen, um so schwieriger ist zu erklären, wie er sich in die Rolle des Messias hineindenken konnte. Die Frage: wie konnte Jesus einen unter jenen Voraussetzungen so mißverständliche» Titel cnnrehmen, der auch in der That mißverstände» worde» ist. so daß die Folgen des Mißverständnisses heute noch nachwirken, ist nicht beantwortet und sie wird nicht zu beantworten sein, wenn es nicht gelingt, schärfer als bisher geschehen ist. vom Bewußtsein Jesu dasjenige auszuscheiden, was erst das Bewußtsein der Jünger nach der großen Krisis der Auferstchungsvisionen in dasselbe hinein¬ gelegt hat. Es treibt an diesem Punkt noch eine Art von Hacmvnistck >hr Wesen, die ebenso zu beseitigen ist wie auf dem Gebiet der Evangelienkiitik. Zu dieser Aufgabe hat aber Colani selbst am Schlüsse seines Buchs einen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/147
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/147>, abgerufen am 23.07.2024.