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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Mittelpunkt des Nationalbewußtseins der Juden vorstellt. Es ist nicht minder
bezeichnend, daß wir, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen, einzig ans
die sogenannte apokalyptische Literatur angewiesen sind, welche an die alten
Formen der hebräischen Prophetie sich anschließend als eine Geheimliteratur nur
in engen Kreisen fortlebte.

Das Buch Daniel ist bekanntlich auf die Ausbildung der christliche"
Messiasidee vom größten Einfluß gewesen, aber in seinem Texte findet sich
Nichts vom Messias, noch weniger vom Davidssohn. Diese Apokalypse
oder Offenbarung, welche der Mattabäerzeit angehört, giebt in ihren Visionen
eine Art von Elcmentcuphilosophie des Weltverlaufs, dargelegt an den auf
einander folgenden Weltherrschaften, ebenso wie in der persischen Religionssage,
deren Einfluß dieses Buch auch sonst verräth, eine Reihe von tausendjährigen
Reichen dem ewigen Reiche Ormuzds vorausgeht. In einer dieser Visionen
sieht der Prophet vier Thiere, welche nach ihren Attributen das chaldäische,
das medische, das persische und das griechische Weltreich bedeuten. Es erscheint
der Alte der Tage, umgeben von himmlischen Heeren auf einem feurigen
Throne, und sobald er die Bücher öffnet, wird das vierte Thier getödtet.
Und nun folgt die berühmte Stelle: "Und siehe, mit den Wolken des Himmels
kommt wie eines Menschen Sohn, gelangt zum Alten der Tage und wird
vor ihn gebracht. Und ihm wird gegeben das Reich, die Ehre und das König¬
thum, damit alle Völker ihm dienen. Sein Reich ist ein ewiges Reich und
hat kein Ende." Die christliche Auslegung verstand seit den ältesten Zeiten
unter diesem Menschensohne den Messias, der auf den Wolken vom Himmel
herabkommen werde. Unser Text weiß nichts davon, er giebt selbst unmittel¬
bar darauf eine ganz andere Auslegung vom Menschensohn, der überdies gar
nicht aus den Wolken des Himmels herabkommt, sondern im Gegentheil, zu
Gott hinaufgebracht wird. Die Symmetrie der Vision erfordert offenbar, daß
der Menschensohn wie die vier Thiere gleichfalls die Personifikation eines
Weltreiches ist, dessen unterscheidende Züge eben damit bezeichnet sein sollen,
daß es nicht unter thierischer, sondern unter der edlen menschlichen Gestalt
dem Seher erscheint. Es ist das jüdische, das auf die vier anderen folgen,
sich über alle Völker erstrecken und kein Ende haben soll. Und ausdrücklich
wird, wie der Prophet selbst sein Geficht erklärt, die Herrschaft und die Macht
über alle Reiche "den Heiligen des Höchsten", dem "heiligen Volke des Höchsten"
verliehen. Vom Messias, von einem Haupt der Heiligen ist gar nicht die Rede.
Es ist vielmehr, wie aus einer anderen Vision noch deutlicher hervorgeht, viel¬
mehr die Form einer Aristokratie, unter welcher er sich dao künftige Reich vorstellt.

Eine Nachahmung des Buches Daniel ist das Buch Henoch, das unter
Johannes Hyrkanos, dem dritten Fürsten der Makkabäerfamilie etwa um das
Jahr 110 vor Christus verfaßt ist. Auch dieses Buch, das bei den ältesten


Mittelpunkt des Nationalbewußtseins der Juden vorstellt. Es ist nicht minder
bezeichnend, daß wir, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen, einzig ans
die sogenannte apokalyptische Literatur angewiesen sind, welche an die alten
Formen der hebräischen Prophetie sich anschließend als eine Geheimliteratur nur
in engen Kreisen fortlebte.

Das Buch Daniel ist bekanntlich auf die Ausbildung der christliche»
Messiasidee vom größten Einfluß gewesen, aber in seinem Texte findet sich
Nichts vom Messias, noch weniger vom Davidssohn. Diese Apokalypse
oder Offenbarung, welche der Mattabäerzeit angehört, giebt in ihren Visionen
eine Art von Elcmentcuphilosophie des Weltverlaufs, dargelegt an den auf
einander folgenden Weltherrschaften, ebenso wie in der persischen Religionssage,
deren Einfluß dieses Buch auch sonst verräth, eine Reihe von tausendjährigen
Reichen dem ewigen Reiche Ormuzds vorausgeht. In einer dieser Visionen
sieht der Prophet vier Thiere, welche nach ihren Attributen das chaldäische,
das medische, das persische und das griechische Weltreich bedeuten. Es erscheint
der Alte der Tage, umgeben von himmlischen Heeren auf einem feurigen
Throne, und sobald er die Bücher öffnet, wird das vierte Thier getödtet.
Und nun folgt die berühmte Stelle: „Und siehe, mit den Wolken des Himmels
kommt wie eines Menschen Sohn, gelangt zum Alten der Tage und wird
vor ihn gebracht. Und ihm wird gegeben das Reich, die Ehre und das König¬
thum, damit alle Völker ihm dienen. Sein Reich ist ein ewiges Reich und
hat kein Ende." Die christliche Auslegung verstand seit den ältesten Zeiten
unter diesem Menschensohne den Messias, der auf den Wolken vom Himmel
herabkommen werde. Unser Text weiß nichts davon, er giebt selbst unmittel¬
bar darauf eine ganz andere Auslegung vom Menschensohn, der überdies gar
nicht aus den Wolken des Himmels herabkommt, sondern im Gegentheil, zu
Gott hinaufgebracht wird. Die Symmetrie der Vision erfordert offenbar, daß
der Menschensohn wie die vier Thiere gleichfalls die Personifikation eines
Weltreiches ist, dessen unterscheidende Züge eben damit bezeichnet sein sollen,
daß es nicht unter thierischer, sondern unter der edlen menschlichen Gestalt
dem Seher erscheint. Es ist das jüdische, das auf die vier anderen folgen,
sich über alle Völker erstrecken und kein Ende haben soll. Und ausdrücklich
wird, wie der Prophet selbst sein Geficht erklärt, die Herrschaft und die Macht
über alle Reiche „den Heiligen des Höchsten", dem „heiligen Volke des Höchsten"
verliehen. Vom Messias, von einem Haupt der Heiligen ist gar nicht die Rede.
Es ist vielmehr, wie aus einer anderen Vision noch deutlicher hervorgeht, viel¬
mehr die Form einer Aristokratie, unter welcher er sich dao künftige Reich vorstellt.

Eine Nachahmung des Buches Daniel ist das Buch Henoch, das unter
Johannes Hyrkanos, dem dritten Fürsten der Makkabäerfamilie etwa um das
Jahr 110 vor Christus verfaßt ist. Auch dieses Buch, das bei den ältesten


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[0137] Mittelpunkt des Nationalbewußtseins der Juden vorstellt. Es ist nicht minder bezeichnend, daß wir, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen, einzig ans die sogenannte apokalyptische Literatur angewiesen sind, welche an die alten Formen der hebräischen Prophetie sich anschließend als eine Geheimliteratur nur in engen Kreisen fortlebte. Das Buch Daniel ist bekanntlich auf die Ausbildung der christliche» Messiasidee vom größten Einfluß gewesen, aber in seinem Texte findet sich Nichts vom Messias, noch weniger vom Davidssohn. Diese Apokalypse oder Offenbarung, welche der Mattabäerzeit angehört, giebt in ihren Visionen eine Art von Elcmentcuphilosophie des Weltverlaufs, dargelegt an den auf einander folgenden Weltherrschaften, ebenso wie in der persischen Religionssage, deren Einfluß dieses Buch auch sonst verräth, eine Reihe von tausendjährigen Reichen dem ewigen Reiche Ormuzds vorausgeht. In einer dieser Visionen sieht der Prophet vier Thiere, welche nach ihren Attributen das chaldäische, das medische, das persische und das griechische Weltreich bedeuten. Es erscheint der Alte der Tage, umgeben von himmlischen Heeren auf einem feurigen Throne, und sobald er die Bücher öffnet, wird das vierte Thier getödtet. Und nun folgt die berühmte Stelle: „Und siehe, mit den Wolken des Himmels kommt wie eines Menschen Sohn, gelangt zum Alten der Tage und wird vor ihn gebracht. Und ihm wird gegeben das Reich, die Ehre und das König¬ thum, damit alle Völker ihm dienen. Sein Reich ist ein ewiges Reich und hat kein Ende." Die christliche Auslegung verstand seit den ältesten Zeiten unter diesem Menschensohne den Messias, der auf den Wolken vom Himmel herabkommen werde. Unser Text weiß nichts davon, er giebt selbst unmittel¬ bar darauf eine ganz andere Auslegung vom Menschensohn, der überdies gar nicht aus den Wolken des Himmels herabkommt, sondern im Gegentheil, zu Gott hinaufgebracht wird. Die Symmetrie der Vision erfordert offenbar, daß der Menschensohn wie die vier Thiere gleichfalls die Personifikation eines Weltreiches ist, dessen unterscheidende Züge eben damit bezeichnet sein sollen, daß es nicht unter thierischer, sondern unter der edlen menschlichen Gestalt dem Seher erscheint. Es ist das jüdische, das auf die vier anderen folgen, sich über alle Völker erstrecken und kein Ende haben soll. Und ausdrücklich wird, wie der Prophet selbst sein Geficht erklärt, die Herrschaft und die Macht über alle Reiche „den Heiligen des Höchsten", dem „heiligen Volke des Höchsten" verliehen. Vom Messias, von einem Haupt der Heiligen ist gar nicht die Rede. Es ist vielmehr, wie aus einer anderen Vision noch deutlicher hervorgeht, viel¬ mehr die Form einer Aristokratie, unter welcher er sich dao künftige Reich vorstellt. Eine Nachahmung des Buches Daniel ist das Buch Henoch, das unter Johannes Hyrkanos, dem dritten Fürsten der Makkabäerfamilie etwa um das Jahr 110 vor Christus verfaßt ist. Auch dieses Buch, das bei den ältesten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/137>, abgerufen am 23.07.2024.