Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

litäten der Anklage festgestellt sind und ein Forum constituirt ist. Hier ist eine
wirkliche Lücke in der Verfassung, und zwar eine Lücke, deren Beseitigung von
der Verfassung selbst gefordert wird. In diesen und ähnlichen Fällen ist der
Regierung eine Verpflichtung erwachsen, deren schleunigste Erfüllung gerade vom
wahrhaft conservativen Standpunkt aus aufs dringendste erheischt wird.

Wohl zu unterscheiden von derartigen Bestimmungen, die an die Special-
gesetzgebung gewisse Forderungen stellen. ihr Verpflichtungen auferlegen und die
Ziele anweisen, nach denen sie sich zu bewegen hat. sind diejenigen grundrccht-
lichen Sätze, die zu ihrer Durchführung nicht eines neuen Gesetzes bedürfen,
sonder" die dadurch, daß sie ältere Beschränkungen aufgehoben haben, von
selbst in Wirksamkeit treten. Ein Beispiel wird den Unterschied klar machen.

Wenn die Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt wird, so ist damit
nur ein Ziel für den Gesetzgeber, keineswegs aber eine Norm für den Richter
oder für die Verwaltung aufgestellt. Denn es ist klar, daß dieser Paragraph
vor Erlaß eines Unterrichtsgcsetzcs praktisch völlig bedeutungslos ist, indem er
nur den Grundsatz hinstellt, nach dem ein künftiges Gesetz die Verhältnisse des
Unterrichts und der Volksbildung zu regeln hat*). Wenn dagegen alle Standes-
vorrechte aufgehoben werde", wen" ferner der Genuß der politischen Rechte für
unabhängig vo" dem Religionsbekenntnis; erklärt wird, so sind damit nicht nur
Grundsätze für die künftige Gesetzgebung ausgesprochen, sondern es sind positiv
alle ältern Gesetze aufgehoben worden, welche politische Vorrechte und Vortheile
an Stand und Religion knüpfe".

Einen andern Ausspruch kann weder die wissenschaftliche Verfassnngsinier-
pretation noch die Gesetzgebung fälle". Hält die Verwaltung eine gewisse Be¬
schränkung, z. B. in Bezug auf die Anstellungsfähigteii der Juden, für noth¬
wendig, so hat sie den Versuch zu machen. solche auf dem von der Verfassung
selbst vorgeschriebenen Wege herbeizuführen; eine Beschränkung dagegen auf dem
Wege administrativer Interpretation ist rechtlich unmöglich und politisch sehr
bedenklich, da jede nicht stritt erfüllte Forderung der Verfassung wie ein Ferment
im Staatskörper auflösend wirkt, die Parteien verbittert und verdirbt, und eine
Consolidirung der Verhältnisse, die doch ganz besonders im Interesse der con-
servativen Richtung liegt, verhindert. Daß die Verfassungsurkunde überreich ist
an allgemeinen Sätzen und die Organisation viel zu sehr der Zukunft überlassen
hat, ist allerdings, so erklärlich es auch sein mag, dennoch, objectiv betrachtet,
ein Fehler, der dringend Heilung erheischt, sie aber nicht durch sophistische Jn-
tcrpretativnskünste, sondern nur durch Ausbau des Unvollendeten und in
Umrissen Entworfenen und durch stritte Erfüllung des Verheißenen finden kann.



") Wir halten, beiläufig bemerkt, diesen Paragraphen in der Fassung für verfehlt, well
unter hundert Individuen schwerlich auch nur zwei denselben Gedanken damit verbinden werden,

litäten der Anklage festgestellt sind und ein Forum constituirt ist. Hier ist eine
wirkliche Lücke in der Verfassung, und zwar eine Lücke, deren Beseitigung von
der Verfassung selbst gefordert wird. In diesen und ähnlichen Fällen ist der
Regierung eine Verpflichtung erwachsen, deren schleunigste Erfüllung gerade vom
wahrhaft conservativen Standpunkt aus aufs dringendste erheischt wird.

Wohl zu unterscheiden von derartigen Bestimmungen, die an die Special-
gesetzgebung gewisse Forderungen stellen. ihr Verpflichtungen auferlegen und die
Ziele anweisen, nach denen sie sich zu bewegen hat. sind diejenigen grundrccht-
lichen Sätze, die zu ihrer Durchführung nicht eines neuen Gesetzes bedürfen,
sonder» die dadurch, daß sie ältere Beschränkungen aufgehoben haben, von
selbst in Wirksamkeit treten. Ein Beispiel wird den Unterschied klar machen.

Wenn die Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt wird, so ist damit
nur ein Ziel für den Gesetzgeber, keineswegs aber eine Norm für den Richter
oder für die Verwaltung aufgestellt. Denn es ist klar, daß dieser Paragraph
vor Erlaß eines Unterrichtsgcsetzcs praktisch völlig bedeutungslos ist, indem er
nur den Grundsatz hinstellt, nach dem ein künftiges Gesetz die Verhältnisse des
Unterrichts und der Volksbildung zu regeln hat*). Wenn dagegen alle Standes-
vorrechte aufgehoben werde», wen» ferner der Genuß der politischen Rechte für
unabhängig vo» dem Religionsbekenntnis; erklärt wird, so sind damit nicht nur
Grundsätze für die künftige Gesetzgebung ausgesprochen, sondern es sind positiv
alle ältern Gesetze aufgehoben worden, welche politische Vorrechte und Vortheile
an Stand und Religion knüpfe».

Einen andern Ausspruch kann weder die wissenschaftliche Verfassnngsinier-
pretation noch die Gesetzgebung fälle». Hält die Verwaltung eine gewisse Be¬
schränkung, z. B. in Bezug auf die Anstellungsfähigteii der Juden, für noth¬
wendig, so hat sie den Versuch zu machen. solche auf dem von der Verfassung
selbst vorgeschriebenen Wege herbeizuführen; eine Beschränkung dagegen auf dem
Wege administrativer Interpretation ist rechtlich unmöglich und politisch sehr
bedenklich, da jede nicht stritt erfüllte Forderung der Verfassung wie ein Ferment
im Staatskörper auflösend wirkt, die Parteien verbittert und verdirbt, und eine
Consolidirung der Verhältnisse, die doch ganz besonders im Interesse der con-
servativen Richtung liegt, verhindert. Daß die Verfassungsurkunde überreich ist
an allgemeinen Sätzen und die Organisation viel zu sehr der Zukunft überlassen
hat, ist allerdings, so erklärlich es auch sein mag, dennoch, objectiv betrachtet,
ein Fehler, der dringend Heilung erheischt, sie aber nicht durch sophistische Jn-
tcrpretativnskünste, sondern nur durch Ausbau des Unvollendeten und in
Umrissen Entworfenen und durch stritte Erfüllung des Verheißenen finden kann.



") Wir halten, beiläufig bemerkt, diesen Paragraphen in der Fassung für verfehlt, well
unter hundert Individuen schwerlich auch nur zwei denselben Gedanken damit verbinden werden,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189715"/>
          <p xml:id="ID_315" prev="#ID_314"> litäten der Anklage festgestellt sind und ein Forum constituirt ist. Hier ist eine<lb/>
wirkliche Lücke in der Verfassung, und zwar eine Lücke, deren Beseitigung von<lb/>
der Verfassung selbst gefordert wird. In diesen und ähnlichen Fällen ist der<lb/>
Regierung eine Verpflichtung erwachsen, deren schleunigste Erfüllung gerade vom<lb/>
wahrhaft conservativen Standpunkt aus aufs dringendste erheischt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_316"> Wohl zu unterscheiden von derartigen Bestimmungen, die an die Special-<lb/>
gesetzgebung gewisse Forderungen stellen. ihr Verpflichtungen auferlegen und die<lb/>
Ziele anweisen, nach denen sie sich zu bewegen hat. sind diejenigen grundrccht-<lb/>
lichen Sätze, die zu ihrer Durchführung nicht eines neuen Gesetzes bedürfen,<lb/>
sonder» die dadurch, daß sie ältere Beschränkungen aufgehoben haben, von<lb/>
selbst in Wirksamkeit treten.  Ein Beispiel wird den Unterschied klar machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_317"> Wenn die Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt wird, so ist damit<lb/>
nur ein Ziel für den Gesetzgeber, keineswegs aber eine Norm für den Richter<lb/>
oder für die Verwaltung aufgestellt. Denn es ist klar, daß dieser Paragraph<lb/>
vor Erlaß eines Unterrichtsgcsetzcs praktisch völlig bedeutungslos ist, indem er<lb/>
nur den Grundsatz hinstellt, nach dem ein künftiges Gesetz die Verhältnisse des<lb/>
Unterrichts und der Volksbildung zu regeln hat*). Wenn dagegen alle Standes-<lb/>
vorrechte aufgehoben werde», wen» ferner der Genuß der politischen Rechte für<lb/>
unabhängig vo» dem Religionsbekenntnis; erklärt wird, so sind damit nicht nur<lb/>
Grundsätze für die künftige Gesetzgebung ausgesprochen, sondern es sind positiv<lb/>
alle ältern Gesetze aufgehoben worden, welche politische Vorrechte und Vortheile<lb/>
an Stand und Religion knüpfe».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_318"> Einen andern Ausspruch kann weder die wissenschaftliche Verfassnngsinier-<lb/>
pretation noch die Gesetzgebung fälle». Hält die Verwaltung eine gewisse Be¬<lb/>
schränkung, z. B. in Bezug auf die Anstellungsfähigteii der Juden, für noth¬<lb/>
wendig, so hat sie den Versuch zu machen. solche auf dem von der Verfassung<lb/>
selbst vorgeschriebenen Wege herbeizuführen; eine Beschränkung dagegen auf dem<lb/>
Wege administrativer Interpretation ist rechtlich unmöglich und politisch sehr<lb/>
bedenklich, da jede nicht stritt erfüllte Forderung der Verfassung wie ein Ferment<lb/>
im Staatskörper auflösend wirkt, die Parteien verbittert und verdirbt, und eine<lb/>
Consolidirung der Verhältnisse, die doch ganz besonders im Interesse der con-<lb/>
servativen Richtung liegt, verhindert. Daß die Verfassungsurkunde überreich ist<lb/>
an allgemeinen Sätzen und die Organisation viel zu sehr der Zukunft überlassen<lb/>
hat, ist allerdings, so erklärlich es auch sein mag, dennoch, objectiv betrachtet,<lb/>
ein Fehler, der dringend Heilung erheischt, sie aber nicht durch sophistische Jn-<lb/>
tcrpretativnskünste, sondern nur durch Ausbau des Unvollendeten und in<lb/>
Umrissen Entworfenen und durch stritte Erfüllung des Verheißenen finden kann.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> ") Wir halten, beiläufig bemerkt, diesen Paragraphen in der Fassung für verfehlt, well<lb/>
unter hundert Individuen schwerlich auch nur zwei denselben Gedanken damit verbinden werden,</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] litäten der Anklage festgestellt sind und ein Forum constituirt ist. Hier ist eine wirkliche Lücke in der Verfassung, und zwar eine Lücke, deren Beseitigung von der Verfassung selbst gefordert wird. In diesen und ähnlichen Fällen ist der Regierung eine Verpflichtung erwachsen, deren schleunigste Erfüllung gerade vom wahrhaft conservativen Standpunkt aus aufs dringendste erheischt wird. Wohl zu unterscheiden von derartigen Bestimmungen, die an die Special- gesetzgebung gewisse Forderungen stellen. ihr Verpflichtungen auferlegen und die Ziele anweisen, nach denen sie sich zu bewegen hat. sind diejenigen grundrccht- lichen Sätze, die zu ihrer Durchführung nicht eines neuen Gesetzes bedürfen, sonder» die dadurch, daß sie ältere Beschränkungen aufgehoben haben, von selbst in Wirksamkeit treten. Ein Beispiel wird den Unterschied klar machen. Wenn die Wissenschaft und ihre Lehre für frei erklärt wird, so ist damit nur ein Ziel für den Gesetzgeber, keineswegs aber eine Norm für den Richter oder für die Verwaltung aufgestellt. Denn es ist klar, daß dieser Paragraph vor Erlaß eines Unterrichtsgcsetzcs praktisch völlig bedeutungslos ist, indem er nur den Grundsatz hinstellt, nach dem ein künftiges Gesetz die Verhältnisse des Unterrichts und der Volksbildung zu regeln hat*). Wenn dagegen alle Standes- vorrechte aufgehoben werde», wen» ferner der Genuß der politischen Rechte für unabhängig vo» dem Religionsbekenntnis; erklärt wird, so sind damit nicht nur Grundsätze für die künftige Gesetzgebung ausgesprochen, sondern es sind positiv alle ältern Gesetze aufgehoben worden, welche politische Vorrechte und Vortheile an Stand und Religion knüpfe». Einen andern Ausspruch kann weder die wissenschaftliche Verfassnngsinier- pretation noch die Gesetzgebung fälle». Hält die Verwaltung eine gewisse Be¬ schränkung, z. B. in Bezug auf die Anstellungsfähigteii der Juden, für noth¬ wendig, so hat sie den Versuch zu machen. solche auf dem von der Verfassung selbst vorgeschriebenen Wege herbeizuführen; eine Beschränkung dagegen auf dem Wege administrativer Interpretation ist rechtlich unmöglich und politisch sehr bedenklich, da jede nicht stritt erfüllte Forderung der Verfassung wie ein Ferment im Staatskörper auflösend wirkt, die Parteien verbittert und verdirbt, und eine Consolidirung der Verhältnisse, die doch ganz besonders im Interesse der con- servativen Richtung liegt, verhindert. Daß die Verfassungsurkunde überreich ist an allgemeinen Sätzen und die Organisation viel zu sehr der Zukunft überlassen hat, ist allerdings, so erklärlich es auch sein mag, dennoch, objectiv betrachtet, ein Fehler, der dringend Heilung erheischt, sie aber nicht durch sophistische Jn- tcrpretativnskünste, sondern nur durch Ausbau des Unvollendeten und in Umrissen Entworfenen und durch stritte Erfüllung des Verheißenen finden kann. ") Wir halten, beiläufig bemerkt, diesen Paragraphen in der Fassung für verfehlt, well unter hundert Individuen schwerlich auch nur zwei denselben Gedanken damit verbinden werden,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/91>, abgerufen am 03.07.2024.