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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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spätere Entwicklung des Judenthums ist auch sicher höher anzuschlagen, als Geiger
es thut. Lehren wie von der Auferstehung und von der himmlischen Hierarchie
sind nicht als unwesentlich zu betrachten! Der Alexandrinismus und das Rö-
merthum werden beide von Geiger zu tief gestellt. Wie sehr wir in jenem die
Frische und den Adel des altgriechischen Wesens vermissen, die gewaltige Be¬
deutung, welche er sür die Wissenschaft und dadurch für die geistige Entwick¬
lung der ganzen Menscheit gehabt hat, darf man nicht verkennen. Und die
Römerherrschaft hat den Morgenländern wenigstens einen Begriff von Recht und
Gesetz beigebracht, der ihnen sonst nicht zur Erscheinung kam. Wie schlimm
auch mancher Statthalter wirthschaften mochte, im Ganzen verfuhr ein gewöhn¬
licher römischer Beamter der Kaiserzeit mehr nach strengem Recht, als die ge¬
priesenen Muster orientalischer Regentcntugend.

Die Entstehung und erste Geschichte des Christenthums wird von Geiger
sehr verständig besprochen. Wir stimmen hier mit ihm in sehr wesentlichen Punt"
den überein. Auch wir glauben, daß der Einfluß des Christenthums aus die
geistige Entwicklung der Menschheit, so gewaltig derselbe gewesen ist, doch vielfach
überschätzt wird; auch wir möchten das als seine segensreichste Wirksamkeit ansehen,
daß es die wilden germanischen Völker gebändigt und sie mit den andern Nationen
zu einem großen Ganzen geeint hat, wobei wir immer noch beklagen können, daß
hierbei so mancher edle nationale Keim erstickt ist. Hauptsächlich weichen wir in
einem Punkte hinsichtlich der Urgeschichte des Christenthums von Geiger ab.
Ihm ist der Stifter des Christenthums im Grund ein unbedeutender Mensch,
der so gut wie nichts Neues hervorgebracht hat; was am Christenthum Neues
ist, das haben nach ihm erst die Späteren, namentlich Paulus geschaffen. In
diesem Sinne polemisirt er in einem Anhange denn auch gegen Strauß und
Renan. Es hängt dies mit seiner Auffassung der Pharisäer zusammen. Wie¬
wohl wir uns der von ihm neu aufgestellten Ansicht über Pharisäer und Saddu-
ccier (allerdings nicht ohne einige Einschränkungen) anschließen, so ist es uns
doch räthselhaft, wie ein so gebildeter und geschmackvoller Mann, wie Geiger,
die geistige Wirksamkeit der Pharisäer und ihrer Nachfolger, der talmudischen
Lehrer, so hoch stellen kann. Es ist wirklich nicht blos Einseitigkeit und Un-
kenntniß, wie jüdische Gelehrte oft meinen, wenn uns Nichtjuden diese Spitz¬
findigkeit in den nichtigsten Dingen, dieses Streiten über wesenlose Schatten,
diese traurige Buchstabcnkrämerei wie sie in den pharisäischen Schulen blühen,
theils anwidern theils langweilen. Man höre erst die Donnerstimme der alten
Propheten und vertiefe sich dann in die Producte der pharisäischen Lehrer, so
wird man erkennen, daß hier nicht Fortschritt, sondern ein großer Rückschritt
ist. ein Rückschritt, gegen den das Christenthum vom ersten Lebensmoment an
protestirte. Und dann lese man die erste beste Rede im Matthäusevangelium,
das uns im Wesentlichen doch die Gedanken und Worte Jesu wiedergiebt und


spätere Entwicklung des Judenthums ist auch sicher höher anzuschlagen, als Geiger
es thut. Lehren wie von der Auferstehung und von der himmlischen Hierarchie
sind nicht als unwesentlich zu betrachten! Der Alexandrinismus und das Rö-
merthum werden beide von Geiger zu tief gestellt. Wie sehr wir in jenem die
Frische und den Adel des altgriechischen Wesens vermissen, die gewaltige Be¬
deutung, welche er sür die Wissenschaft und dadurch für die geistige Entwick¬
lung der ganzen Menscheit gehabt hat, darf man nicht verkennen. Und die
Römerherrschaft hat den Morgenländern wenigstens einen Begriff von Recht und
Gesetz beigebracht, der ihnen sonst nicht zur Erscheinung kam. Wie schlimm
auch mancher Statthalter wirthschaften mochte, im Ganzen verfuhr ein gewöhn¬
licher römischer Beamter der Kaiserzeit mehr nach strengem Recht, als die ge¬
priesenen Muster orientalischer Regentcntugend.

Die Entstehung und erste Geschichte des Christenthums wird von Geiger
sehr verständig besprochen. Wir stimmen hier mit ihm in sehr wesentlichen Punt»
den überein. Auch wir glauben, daß der Einfluß des Christenthums aus die
geistige Entwicklung der Menschheit, so gewaltig derselbe gewesen ist, doch vielfach
überschätzt wird; auch wir möchten das als seine segensreichste Wirksamkeit ansehen,
daß es die wilden germanischen Völker gebändigt und sie mit den andern Nationen
zu einem großen Ganzen geeint hat, wobei wir immer noch beklagen können, daß
hierbei so mancher edle nationale Keim erstickt ist. Hauptsächlich weichen wir in
einem Punkte hinsichtlich der Urgeschichte des Christenthums von Geiger ab.
Ihm ist der Stifter des Christenthums im Grund ein unbedeutender Mensch,
der so gut wie nichts Neues hervorgebracht hat; was am Christenthum Neues
ist, das haben nach ihm erst die Späteren, namentlich Paulus geschaffen. In
diesem Sinne polemisirt er in einem Anhange denn auch gegen Strauß und
Renan. Es hängt dies mit seiner Auffassung der Pharisäer zusammen. Wie¬
wohl wir uns der von ihm neu aufgestellten Ansicht über Pharisäer und Saddu-
ccier (allerdings nicht ohne einige Einschränkungen) anschließen, so ist es uns
doch räthselhaft, wie ein so gebildeter und geschmackvoller Mann, wie Geiger,
die geistige Wirksamkeit der Pharisäer und ihrer Nachfolger, der talmudischen
Lehrer, so hoch stellen kann. Es ist wirklich nicht blos Einseitigkeit und Un-
kenntniß, wie jüdische Gelehrte oft meinen, wenn uns Nichtjuden diese Spitz¬
findigkeit in den nichtigsten Dingen, dieses Streiten über wesenlose Schatten,
diese traurige Buchstabcnkrämerei wie sie in den pharisäischen Schulen blühen,
theils anwidern theils langweilen. Man höre erst die Donnerstimme der alten
Propheten und vertiefe sich dann in die Producte der pharisäischen Lehrer, so
wird man erkennen, daß hier nicht Fortschritt, sondern ein großer Rückschritt
ist. ein Rückschritt, gegen den das Christenthum vom ersten Lebensmoment an
protestirte. Und dann lese man die erste beste Rede im Matthäusevangelium,
das uns im Wesentlichen doch die Gedanken und Worte Jesu wiedergiebt und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/82>, abgerufen am 26.06.2024.