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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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schlossen waren, selbst nichts zur Verwirklichung dieser Hoffnungen zu thun,
sondern sie von dem natürlichen Gange der Ereignisse zu erwarten.

Guizot legte in seinen Berechnungen auf einen Umstand Gewicht, der
nicht immer für den schwächeren Theil in einer Unterhandlung günstig ist, darauf
nämlich, daß das neue Cabinet, im Gegensatz zu dem Ministerium Thiers
einen ausgesprochnen friedlichen Charakter trage. Diese Anschauung war im
vorliegenden Falle nicht ganz ohne Grund. Die Gefahr lag nahe, daß ein
Krieg Frankreichs gegen das vereinigte Europa in propagandistisch revolutionärer
Weise geführt werden würde. Wäre es nun Guizot nicht gelungen, den auf¬
geregten Wogen der Voltsleidenschaft in Frankreich Stand zu halten, hätte er
wiederum einem kriegerischen Ministerium weichen müssen, so waren Erschütterungen
vorauszusehen, deren Kraft und Wirkungkreis sich nicht vorher berechnen ließ.
So konnte Guizot sich als Vertreter des Princips der Ordnung und der con-
servativen Interessen hinstellen, und er that dies in der That, wie wir glauben,
mit größerem Nachdrucke, als es sich für einen französischen Minister dem Aus¬
lande gegenüber ziemte. Der Unterschied dieses Standpunktes von einer offen¬
kundiger Tendenzpolitik ist fein, und namentlich einer im Punkte der nationalen
Ehre so reizbaren öffentlichen Meinung, wie der französischen, schwer begreiflich
zu machen. Kein Vorwurf, der einem Staatsmanne gemacht werden kann,
findet leichter Eingang und wirkt tiefer, als der, die nationale Ehre und Inter¬
essen, sei es aus Schwäche, sei es aus Parteiinteresse, aufgeopfert zu haben.
Der augenblickliche Gewinn wird überboten durch die Geringschätzung, Ab¬
neigung und Mißstimmung, die sich so wie ein verhängnißvolles Capital auf¬
speichern und die Keime künftigen Verderbens in sich tragen. Es ist eine
durchaus ungerechte Anklage der Opposition, daß Guizot Frankreichs Ehre
preisgegeben habe; seine Politik war vielmehr der Lage Frankreichs ganz ent¬
sprechend; aber jeder Versuch, sich vor dem Auslande als Vertreter des Prin¬
cips der Ordnung in Frankreich hinzustellen, konnte nur dahin wirken, die
dynastische Opposition den Republikanern anzunähern, ohne doch die Lage Frank¬
reichs nach Außen wesentlich zu verbessern. Indessen ist, wie gesagt, zuzugeben,
daß die Kontinentalmächte nicht abgeneigt waren, die innere Stellung Guizots
möglichst zu erleichtern. Dagegen hatte er sich getäuscht, wenn er darauf ge¬
rechnet hatte, daß das englische Cabinet ihm eine gleich wohlwollende Rücksicht
beweisen würde, eine Enttäuschung, die um so empfindlicher war, als Gmzot
gerade die Herstellung eines intimen Verhältnisses mit England als eine der
Hauptaufgaben feiner Politik ansah. Wie im vorigen Bande mitgetheilt ist,
hatte Thiers in seiner letzten Depesche in drohendem Tone gegen die von der
Pforte gegen Mehemed Ali ausgesprochene Absetzung protestirt. Palmerston
halte selbst Ponsonby angewiesen, im Verein mit den Vertretern der verbün¬
deten Mächte auf Rücknahme des betreffenden Decrets zu dringen, so daß man


schlossen waren, selbst nichts zur Verwirklichung dieser Hoffnungen zu thun,
sondern sie von dem natürlichen Gange der Ereignisse zu erwarten.

Guizot legte in seinen Berechnungen auf einen Umstand Gewicht, der
nicht immer für den schwächeren Theil in einer Unterhandlung günstig ist, darauf
nämlich, daß das neue Cabinet, im Gegensatz zu dem Ministerium Thiers
einen ausgesprochnen friedlichen Charakter trage. Diese Anschauung war im
vorliegenden Falle nicht ganz ohne Grund. Die Gefahr lag nahe, daß ein
Krieg Frankreichs gegen das vereinigte Europa in propagandistisch revolutionärer
Weise geführt werden würde. Wäre es nun Guizot nicht gelungen, den auf¬
geregten Wogen der Voltsleidenschaft in Frankreich Stand zu halten, hätte er
wiederum einem kriegerischen Ministerium weichen müssen, so waren Erschütterungen
vorauszusehen, deren Kraft und Wirkungkreis sich nicht vorher berechnen ließ.
So konnte Guizot sich als Vertreter des Princips der Ordnung und der con-
servativen Interessen hinstellen, und er that dies in der That, wie wir glauben,
mit größerem Nachdrucke, als es sich für einen französischen Minister dem Aus¬
lande gegenüber ziemte. Der Unterschied dieses Standpunktes von einer offen¬
kundiger Tendenzpolitik ist fein, und namentlich einer im Punkte der nationalen
Ehre so reizbaren öffentlichen Meinung, wie der französischen, schwer begreiflich
zu machen. Kein Vorwurf, der einem Staatsmanne gemacht werden kann,
findet leichter Eingang und wirkt tiefer, als der, die nationale Ehre und Inter¬
essen, sei es aus Schwäche, sei es aus Parteiinteresse, aufgeopfert zu haben.
Der augenblickliche Gewinn wird überboten durch die Geringschätzung, Ab¬
neigung und Mißstimmung, die sich so wie ein verhängnißvolles Capital auf¬
speichern und die Keime künftigen Verderbens in sich tragen. Es ist eine
durchaus ungerechte Anklage der Opposition, daß Guizot Frankreichs Ehre
preisgegeben habe; seine Politik war vielmehr der Lage Frankreichs ganz ent¬
sprechend; aber jeder Versuch, sich vor dem Auslande als Vertreter des Prin¬
cips der Ordnung in Frankreich hinzustellen, konnte nur dahin wirken, die
dynastische Opposition den Republikanern anzunähern, ohne doch die Lage Frank¬
reichs nach Außen wesentlich zu verbessern. Indessen ist, wie gesagt, zuzugeben,
daß die Kontinentalmächte nicht abgeneigt waren, die innere Stellung Guizots
möglichst zu erleichtern. Dagegen hatte er sich getäuscht, wenn er darauf ge¬
rechnet hatte, daß das englische Cabinet ihm eine gleich wohlwollende Rücksicht
beweisen würde, eine Enttäuschung, die um so empfindlicher war, als Gmzot
gerade die Herstellung eines intimen Verhältnisses mit England als eine der
Hauptaufgaben feiner Politik ansah. Wie im vorigen Bande mitgetheilt ist,
hatte Thiers in seiner letzten Depesche in drohendem Tone gegen die von der
Pforte gegen Mehemed Ali ausgesprochene Absetzung protestirt. Palmerston
halte selbst Ponsonby angewiesen, im Verein mit den Vertretern der verbün¬
deten Mächte auf Rücknahme des betreffenden Decrets zu dringen, so daß man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/79>, abgerufen am 20.10.2024.