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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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[Beginn Spaltensatz] Als da nichts war
Da war der eine
Der Männer mildester
ruhmreiche Geister. [Spaltenumbruch] aller Orten und Enden,
allmächtige Gott,
und viele mit ihm,
Und der heilige Gott . . .[Ende Spaltensatz]

Ein vollständigeres Urtheil über die Poesie jener Zeit gewinnen wir aus
einem Gedicht vom jüngsten Tage, von welchem Scherer ein größeres Stück in
5?er Ueberhebung mittheilt, von welchem wir aber nur das Folgende geben:

"Wenn das himmlische Horn geblasen wird (vgl. Völuspa 49: "Ins er¬
hobene Horn bläst Heimdal laut," wenn die Schlacht zwischen den Asen und
Surturs Geschlecht beginnt) und sich der Weltenrichter aufmacht, dann erhebt sich
mit ihm ein mächtiges Heer, das ist all so kühn, daß kein Mensch ihm wider¬
steht. Er fährt zur Mastställe, die da abgegrenzt ist. und die Engel eilen
hin fern über die Marken, erwecken die Völker, führen sie zum Herrn. Da
soll jedermann aus dem Staube erstehn, aus Grabes Banden. Zurück soll
ihm das Leben kehren, daß er sich rechtfertige und er abgeurtheilt werde nach
seinen Thaten. Wenn der dann seinen Sitz einnimmt, welcher richtet über
Lebende und Todte, dann steht um ihn her die Menge der Engel und guter
Menschen, ein großer Chor. Dann kommen sie alle, die aus ihrer Ruh erstehn,
und die Hand wird sprechen, das Haupt es sagen, jedes Glied es verkündigen
bis herab zum kleinen Finger, wenn er unter den Menschen Mord Verübte.
Keiner ist so künstercich, daß er dort löge, daß er eine That verhehlte und sie
dem König nicht kundgethan würde. Nur wer seine Missethat vorher gebüßt
hat mit Fasten und mit Almosen, der braucht nichts zu fürchten, wenn er zum
Gericht kommt. Dann wird hervorgetragen das heilige Kreuz, daran Christus
erhenkt ward, und er zeigt die Wundmale, die er empfangen auf Erden aus
Liebe zu den Menschen."

Dieses Lied, welches um den Anfang des neunten Jahrhunderts in
bayerischem Dialekt geschrieben wurde, und dessen Entstehung der Bischof Arno
wohl nicht ganz fremd war, hat eine Erweiterung erfahren, die sehr merkwürdig
ist. Wie in die ursprüngliche Nibelungensage im Lauf der Jahrhunderte
allmälig Heldennamen eintreten, die ihr ursprünglich fremd waren, wie spätere
Dichter nachdem der Liederkreis derselben Theodorich und Rüdiger von Pechlarn
aufgenommen, Gero und Eckehart hineinbrachten, wie kleinere epische Gedichte
später Zusätze erhielten, so ist es auch dem obigen Epos ergangen. Ein Dichter
siel auf die christliche Mythe vom Kampfe, den der Antichrist am jüngsten Tage
mit Elias auszufechten haben wird. Aber er kannte auch die soeben im Aus¬
zug mitgetheilte Schilderung des Weltgerichts. "Er findet, daß gerade sein
Thema eine angenehme Vervollständigung dieser Schilderung wäre. Er bedenkt
sich also nicht, dieselbe an einer ziemlich unpassenden Stelle zu unterbrechen
und ihr Folgendes einzufügen:


[Beginn Spaltensatz] Als da nichts war
Da war der eine
Der Männer mildester
ruhmreiche Geister. [Spaltenumbruch] aller Orten und Enden,
allmächtige Gott,
und viele mit ihm,
Und der heilige Gott . . .[Ende Spaltensatz]

Ein vollständigeres Urtheil über die Poesie jener Zeit gewinnen wir aus
einem Gedicht vom jüngsten Tage, von welchem Scherer ein größeres Stück in
5?er Ueberhebung mittheilt, von welchem wir aber nur das Folgende geben:

„Wenn das himmlische Horn geblasen wird (vgl. Völuspa 49: „Ins er¬
hobene Horn bläst Heimdal laut," wenn die Schlacht zwischen den Asen und
Surturs Geschlecht beginnt) und sich der Weltenrichter aufmacht, dann erhebt sich
mit ihm ein mächtiges Heer, das ist all so kühn, daß kein Mensch ihm wider¬
steht. Er fährt zur Mastställe, die da abgegrenzt ist. und die Engel eilen
hin fern über die Marken, erwecken die Völker, führen sie zum Herrn. Da
soll jedermann aus dem Staube erstehn, aus Grabes Banden. Zurück soll
ihm das Leben kehren, daß er sich rechtfertige und er abgeurtheilt werde nach
seinen Thaten. Wenn der dann seinen Sitz einnimmt, welcher richtet über
Lebende und Todte, dann steht um ihn her die Menge der Engel und guter
Menschen, ein großer Chor. Dann kommen sie alle, die aus ihrer Ruh erstehn,
und die Hand wird sprechen, das Haupt es sagen, jedes Glied es verkündigen
bis herab zum kleinen Finger, wenn er unter den Menschen Mord Verübte.
Keiner ist so künstercich, daß er dort löge, daß er eine That verhehlte und sie
dem König nicht kundgethan würde. Nur wer seine Missethat vorher gebüßt
hat mit Fasten und mit Almosen, der braucht nichts zu fürchten, wenn er zum
Gericht kommt. Dann wird hervorgetragen das heilige Kreuz, daran Christus
erhenkt ward, und er zeigt die Wundmale, die er empfangen auf Erden aus
Liebe zu den Menschen."

Dieses Lied, welches um den Anfang des neunten Jahrhunderts in
bayerischem Dialekt geschrieben wurde, und dessen Entstehung der Bischof Arno
wohl nicht ganz fremd war, hat eine Erweiterung erfahren, die sehr merkwürdig
ist. Wie in die ursprüngliche Nibelungensage im Lauf der Jahrhunderte
allmälig Heldennamen eintreten, die ihr ursprünglich fremd waren, wie spätere
Dichter nachdem der Liederkreis derselben Theodorich und Rüdiger von Pechlarn
aufgenommen, Gero und Eckehart hineinbrachten, wie kleinere epische Gedichte
später Zusätze erhielten, so ist es auch dem obigen Epos ergangen. Ein Dichter
siel auf die christliche Mythe vom Kampfe, den der Antichrist am jüngsten Tage
mit Elias auszufechten haben wird. Aber er kannte auch die soeben im Aus¬
zug mitgetheilte Schilderung des Weltgerichts. „Er findet, daß gerade sein
Thema eine angenehme Vervollständigung dieser Schilderung wäre. Er bedenkt
sich also nicht, dieselbe an einer ziemlich unpassenden Stelle zu unterbrechen
und ihr Folgendes einzufügen:


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[0524] Als da nichts war Da war der eine Der Männer mildester ruhmreiche Geister. aller Orten und Enden, allmächtige Gott, und viele mit ihm, Und der heilige Gott . . . Ein vollständigeres Urtheil über die Poesie jener Zeit gewinnen wir aus einem Gedicht vom jüngsten Tage, von welchem Scherer ein größeres Stück in 5?er Ueberhebung mittheilt, von welchem wir aber nur das Folgende geben: „Wenn das himmlische Horn geblasen wird (vgl. Völuspa 49: „Ins er¬ hobene Horn bläst Heimdal laut," wenn die Schlacht zwischen den Asen und Surturs Geschlecht beginnt) und sich der Weltenrichter aufmacht, dann erhebt sich mit ihm ein mächtiges Heer, das ist all so kühn, daß kein Mensch ihm wider¬ steht. Er fährt zur Mastställe, die da abgegrenzt ist. und die Engel eilen hin fern über die Marken, erwecken die Völker, führen sie zum Herrn. Da soll jedermann aus dem Staube erstehn, aus Grabes Banden. Zurück soll ihm das Leben kehren, daß er sich rechtfertige und er abgeurtheilt werde nach seinen Thaten. Wenn der dann seinen Sitz einnimmt, welcher richtet über Lebende und Todte, dann steht um ihn her die Menge der Engel und guter Menschen, ein großer Chor. Dann kommen sie alle, die aus ihrer Ruh erstehn, und die Hand wird sprechen, das Haupt es sagen, jedes Glied es verkündigen bis herab zum kleinen Finger, wenn er unter den Menschen Mord Verübte. Keiner ist so künstercich, daß er dort löge, daß er eine That verhehlte und sie dem König nicht kundgethan würde. Nur wer seine Missethat vorher gebüßt hat mit Fasten und mit Almosen, der braucht nichts zu fürchten, wenn er zum Gericht kommt. Dann wird hervorgetragen das heilige Kreuz, daran Christus erhenkt ward, und er zeigt die Wundmale, die er empfangen auf Erden aus Liebe zu den Menschen." Dieses Lied, welches um den Anfang des neunten Jahrhunderts in bayerischem Dialekt geschrieben wurde, und dessen Entstehung der Bischof Arno wohl nicht ganz fremd war, hat eine Erweiterung erfahren, die sehr merkwürdig ist. Wie in die ursprüngliche Nibelungensage im Lauf der Jahrhunderte allmälig Heldennamen eintreten, die ihr ursprünglich fremd waren, wie spätere Dichter nachdem der Liederkreis derselben Theodorich und Rüdiger von Pechlarn aufgenommen, Gero und Eckehart hineinbrachten, wie kleinere epische Gedichte später Zusätze erhielten, so ist es auch dem obigen Epos ergangen. Ein Dichter siel auf die christliche Mythe vom Kampfe, den der Antichrist am jüngsten Tage mit Elias auszufechten haben wird. Aber er kannte auch die soeben im Aus¬ zug mitgetheilte Schilderung des Weltgerichts. „Er findet, daß gerade sein Thema eine angenehme Vervollständigung dieser Schilderung wäre. Er bedenkt sich also nicht, dieselbe an einer ziemlich unpassenden Stelle zu unterbrechen und ihr Folgendes einzufügen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/524>, abgerufen am 28.09.2024.