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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Seligkeit des lebendigen Gottesgefühls, das ihn mit solcher Energie durchdringt.
Keine äußeren Gebräuche weist er an als dauernde Merkmale der neuen Ge¬
meinschaft, alle religiöse Forderung geht ihm vielmehr auf in dem Gebot der
Liebe, der Demuth, der Reinheit des Herzens. Nirgends stellt er schulmä¬
ßige Bestimmungen auf über Sünde und Gnade, über Gericht und Erlösung,
vielmehr wendet er sich überall an die Empfänglichkeit der sittlichen Natur, an
den freien Willen des Menschen, dem er zumuthet vollkommen zu sein, wie
Gott vollkommen ist. Nirgends empfiehlt er kirchliche Aemter und Einrichtungen,
von welchen das Gedeihen des Gottesreiches abhinge, vielmehr hat er in dem
Grundsatz, daß Gott der Vater aller Menschen ist, die Gleichheit aller vor
Gott ausgesprochen. Nichts ist mit Einem Wort in seiner Lehre, was nicht
auf das rein sittliche Verhalten des Menschen Bezug hätte. Das unmittelbare
Verhältniß des Menschen zu Gott und ein auf dieses Verhältniß gegründetes
sittliches Leben -- dies ist das religiöse Ideal Jesu, wie es uns aus den äl¬
testen Stücken der Evangelicnliteratur entgegentritt. Ebendcunit ist es aber
nur die letzte Konsequenz, der Abschluß aller vorausgegangenen Versuche, das
religiöse Verhalten des Menschen auf sein letztes Princip zurückzuführen. Es
war etwas wesentlich Neues, sofern dieses Princip jetzt zum ersten Mal in seiner
ganzen Reinheit und Schärfe und zugleich in einer populären Form ausgespro¬
chen wurde, die nicht wie die moralischen Systeme der Griechen an die Wis¬
senden, sondern an das religiöse Bewußtsein auch der niedersten, ja an diese
vorzugsweise sich wandte. Aber andrerseits konnte es doch nur dadurch Prin¬
cip einer neuen Weltreligion werden, daß in ihm alle diejenigen Elemente,
welche in den religiösen Bestrebungen der Gegenwart bereits vorhanden waren,
auf ihren natürlichsten, einfachsten Ausdruck gebracht waren. Es enthält, wie
Baur es ausgedrückt hat, nichts, was nicht durch eine ihm vorangehende
Reihe von Ursachen und Wirkungen bedingt wäre, nichts, was nicht längst auf
verschiedenen Wegen vorbereitet und der Stufe der Entwicklung entgegenge¬
führt worden ist, auf weicher es uns im Christenthum erscheint, nichts, was
nicht, sei es in dieser oder jener Form, auch zuvor schon als ein Resultat des
vernünftigen Denkens, als ein Bedürfniß des menschlichen Herzens, als eine
Forderung des sittlichen Bewußtseins sich geltend gemacht hätte.

Allein auch nach der andern Seite, nach vorwärts, steht das Christenthum
in dem Zusammenhang natürlicher Ursachen und Wirkungen. Wir haben uns
ja die Jugendzeit des Christenthums nicht in der Weise zu denken, als ob,
nachdem sein Princip einmal ausgesprochen, nunmehr seine Entfaltung ohne
weitere Störung vor sich gegangen wäre und es nur um Ausbreitung und
Verwirklichung des religiösen Ideals Jesu sich gehandelt hätte. Je höher dieses
Ideal war, um so weniger ließ es sich unmittelbar verwirklichen. Je reiner
das Princip, um so mehr lag es in der Natur der Sache, daß jeder Anlauf


Seligkeit des lebendigen Gottesgefühls, das ihn mit solcher Energie durchdringt.
Keine äußeren Gebräuche weist er an als dauernde Merkmale der neuen Ge¬
meinschaft, alle religiöse Forderung geht ihm vielmehr auf in dem Gebot der
Liebe, der Demuth, der Reinheit des Herzens. Nirgends stellt er schulmä¬
ßige Bestimmungen auf über Sünde und Gnade, über Gericht und Erlösung,
vielmehr wendet er sich überall an die Empfänglichkeit der sittlichen Natur, an
den freien Willen des Menschen, dem er zumuthet vollkommen zu sein, wie
Gott vollkommen ist. Nirgends empfiehlt er kirchliche Aemter und Einrichtungen,
von welchen das Gedeihen des Gottesreiches abhinge, vielmehr hat er in dem
Grundsatz, daß Gott der Vater aller Menschen ist, die Gleichheit aller vor
Gott ausgesprochen. Nichts ist mit Einem Wort in seiner Lehre, was nicht
auf das rein sittliche Verhalten des Menschen Bezug hätte. Das unmittelbare
Verhältniß des Menschen zu Gott und ein auf dieses Verhältniß gegründetes
sittliches Leben — dies ist das religiöse Ideal Jesu, wie es uns aus den äl¬
testen Stücken der Evangelicnliteratur entgegentritt. Ebendcunit ist es aber
nur die letzte Konsequenz, der Abschluß aller vorausgegangenen Versuche, das
religiöse Verhalten des Menschen auf sein letztes Princip zurückzuführen. Es
war etwas wesentlich Neues, sofern dieses Princip jetzt zum ersten Mal in seiner
ganzen Reinheit und Schärfe und zugleich in einer populären Form ausgespro¬
chen wurde, die nicht wie die moralischen Systeme der Griechen an die Wis¬
senden, sondern an das religiöse Bewußtsein auch der niedersten, ja an diese
vorzugsweise sich wandte. Aber andrerseits konnte es doch nur dadurch Prin¬
cip einer neuen Weltreligion werden, daß in ihm alle diejenigen Elemente,
welche in den religiösen Bestrebungen der Gegenwart bereits vorhanden waren,
auf ihren natürlichsten, einfachsten Ausdruck gebracht waren. Es enthält, wie
Baur es ausgedrückt hat, nichts, was nicht durch eine ihm vorangehende
Reihe von Ursachen und Wirkungen bedingt wäre, nichts, was nicht längst auf
verschiedenen Wegen vorbereitet und der Stufe der Entwicklung entgegenge¬
führt worden ist, auf weicher es uns im Christenthum erscheint, nichts, was
nicht, sei es in dieser oder jener Form, auch zuvor schon als ein Resultat des
vernünftigen Denkens, als ein Bedürfniß des menschlichen Herzens, als eine
Forderung des sittlichen Bewußtseins sich geltend gemacht hätte.

Allein auch nach der andern Seite, nach vorwärts, steht das Christenthum
in dem Zusammenhang natürlicher Ursachen und Wirkungen. Wir haben uns
ja die Jugendzeit des Christenthums nicht in der Weise zu denken, als ob,
nachdem sein Princip einmal ausgesprochen, nunmehr seine Entfaltung ohne
weitere Störung vor sich gegangen wäre und es nur um Ausbreitung und
Verwirklichung des religiösen Ideals Jesu sich gehandelt hätte. Je höher dieses
Ideal war, um so weniger ließ es sich unmittelbar verwirklichen. Je reiner
das Princip, um so mehr lag es in der Natur der Sache, daß jeder Anlauf


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[0429] Seligkeit des lebendigen Gottesgefühls, das ihn mit solcher Energie durchdringt. Keine äußeren Gebräuche weist er an als dauernde Merkmale der neuen Ge¬ meinschaft, alle religiöse Forderung geht ihm vielmehr auf in dem Gebot der Liebe, der Demuth, der Reinheit des Herzens. Nirgends stellt er schulmä¬ ßige Bestimmungen auf über Sünde und Gnade, über Gericht und Erlösung, vielmehr wendet er sich überall an die Empfänglichkeit der sittlichen Natur, an den freien Willen des Menschen, dem er zumuthet vollkommen zu sein, wie Gott vollkommen ist. Nirgends empfiehlt er kirchliche Aemter und Einrichtungen, von welchen das Gedeihen des Gottesreiches abhinge, vielmehr hat er in dem Grundsatz, daß Gott der Vater aller Menschen ist, die Gleichheit aller vor Gott ausgesprochen. Nichts ist mit Einem Wort in seiner Lehre, was nicht auf das rein sittliche Verhalten des Menschen Bezug hätte. Das unmittelbare Verhältniß des Menschen zu Gott und ein auf dieses Verhältniß gegründetes sittliches Leben — dies ist das religiöse Ideal Jesu, wie es uns aus den äl¬ testen Stücken der Evangelicnliteratur entgegentritt. Ebendcunit ist es aber nur die letzte Konsequenz, der Abschluß aller vorausgegangenen Versuche, das religiöse Verhalten des Menschen auf sein letztes Princip zurückzuführen. Es war etwas wesentlich Neues, sofern dieses Princip jetzt zum ersten Mal in seiner ganzen Reinheit und Schärfe und zugleich in einer populären Form ausgespro¬ chen wurde, die nicht wie die moralischen Systeme der Griechen an die Wis¬ senden, sondern an das religiöse Bewußtsein auch der niedersten, ja an diese vorzugsweise sich wandte. Aber andrerseits konnte es doch nur dadurch Prin¬ cip einer neuen Weltreligion werden, daß in ihm alle diejenigen Elemente, welche in den religiösen Bestrebungen der Gegenwart bereits vorhanden waren, auf ihren natürlichsten, einfachsten Ausdruck gebracht waren. Es enthält, wie Baur es ausgedrückt hat, nichts, was nicht durch eine ihm vorangehende Reihe von Ursachen und Wirkungen bedingt wäre, nichts, was nicht längst auf verschiedenen Wegen vorbereitet und der Stufe der Entwicklung entgegenge¬ führt worden ist, auf weicher es uns im Christenthum erscheint, nichts, was nicht, sei es in dieser oder jener Form, auch zuvor schon als ein Resultat des vernünftigen Denkens, als ein Bedürfniß des menschlichen Herzens, als eine Forderung des sittlichen Bewußtseins sich geltend gemacht hätte. Allein auch nach der andern Seite, nach vorwärts, steht das Christenthum in dem Zusammenhang natürlicher Ursachen und Wirkungen. Wir haben uns ja die Jugendzeit des Christenthums nicht in der Weise zu denken, als ob, nachdem sein Princip einmal ausgesprochen, nunmehr seine Entfaltung ohne weitere Störung vor sich gegangen wäre und es nur um Ausbreitung und Verwirklichung des religiösen Ideals Jesu sich gehandelt hätte. Je höher dieses Ideal war, um so weniger ließ es sich unmittelbar verwirklichen. Je reiner das Princip, um so mehr lag es in der Natur der Sache, daß jeder Anlauf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/429>, abgerufen am 28.09.2024.