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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Vermischte Literatur.
Meraner Novellen von Paul Heyse. Fünfte Sammlung. Berlin,
Verlag von Wilhelm Hertz. 1864.

Die letzten Monate haben wie die früheren eine beträchtliche Anzahl von
Romane" und Novellen auf den Markt gebracht, aber, was schon seit geraumer
Zeit zu bemerken, eine Bereicherung unsrer Literatur vermochten wir, einige wenige
Bücher, Fritz Reuters "Ut mine Stromtid" z. B. ausgenommen, darin nicht zu
erblicken. Unsre Zeit scheint überhaupt der Belletristik nicht recht günstig zu sein;
denn auch auf dem Gebiet der lyrischen und dramatischen Production waren die
Ernten in den letzten Jahren kaum Mittelcrnten. Auch die oben angeführten Novellen,
zwei aus dem Gebiete der Dorfgeschichten und eine, die ihr Muster halb in den
Leiden Werthers, halb in den Hcrzcnsgeschichtcn der englischen Gouvernanten hat,
wollen nicht viel bedeuten. Das Mädchentagcbuch "Unheilbar" leidet, von einzelnen
Stücken abgesehen, die den Eindruck des Ganzen aber nicht wesentlich ändern,
geradezu am schlimmsten Fehler, den eine Novelle haben kann: es langweilt. Die
zweite Novelle: "Der Kinder Sünde der Väter Fluch" beginnt in anmuthiger Weise
und zeigt uns in Filomena, einer der Hauptfiguren, ein Mädchen, die von einem
gewissen märchenhaften Zauber umflossen ist, wird aber im weitern Verlauf zur
bloßen schauerlichen Mordgeschichte. Besser ist "der Weinhüter", eine Erzählung
mit dem oft schon behandelten Thema, daß zwei Geschwister anders für einander
empfinden, als die Sitte Geschwistern gestattet, von der daraus sich entwickelnden
Gewisscnspein aber endlich erlöst werden, indem die Ahnung, daß sie in Wahrheit
nicht Geschwister sind. zur Gewißheit erhoben wird. Die Stärke Hcyscs ist zunächst
sein Sinn für das künstlerische Ebenmaß, dann seine schöne Sprache. Er versteht
ferner vortrefflich zu erzählen, häufig auch die Stimmung, namentlich in der Land¬
schaft zu treffen. Die eigentliche Leidenschaft dagegen gebt ihm ab, wenigstens ver¬
schmäht er in der Regel, sie auftreten zu lassen, und so läßt er uns meist kalt,
zumal da seinen Personen großentheils die rechte sinnliche Wahrheit fehlt. Wie ganz
anders greift uns da eine Novelle von Kleist an die Seele trotz ihrer bisweilen
ungefügen Sprache und trotz des Gespenstes, welches bei allen im Hintergründe steht!


Der Rosengarten des Scheikh Muslih-eddin Sa'ti aus Schiras.
Aus dem Persischen übersetzt von G. H. F^ Nesselmann. Berlin, Wcidmannschc
Buchhandlung. 1864.

Im Vergleich mit Graff Uebertragung des Gulistan durch größere Herrschaft
über die deutsche Sprache und bessere Reime ausgezeichnet und eleganter ausgestattet,
auch durch Weglassung einiger anstößigen Stellen der Damenwelt lesbar gemacht,
bei welcher, wie das Vorwort behauptet und wie uns neu ist, "gerade die persische
Poesie sich einer besonders günstigen Aufnahme zu erfreuen fcheint." Wenn der
Uebersetzer mit seinen Anmerkungen weniger sparsam gewesen wäre so würde dies
mit Dank anzunehmen sein. Für Gelehrte wird das Meiste verständlich sein, ob
aber die Damenwelt in gleichem Falle ist, möchten wir bezweifeln.


Vermischte Literatur.
Meraner Novellen von Paul Heyse. Fünfte Sammlung. Berlin,
Verlag von Wilhelm Hertz. 1864.

Die letzten Monate haben wie die früheren eine beträchtliche Anzahl von
Romane» und Novellen auf den Markt gebracht, aber, was schon seit geraumer
Zeit zu bemerken, eine Bereicherung unsrer Literatur vermochten wir, einige wenige
Bücher, Fritz Reuters „Ut mine Stromtid" z. B. ausgenommen, darin nicht zu
erblicken. Unsre Zeit scheint überhaupt der Belletristik nicht recht günstig zu sein;
denn auch auf dem Gebiet der lyrischen und dramatischen Production waren die
Ernten in den letzten Jahren kaum Mittelcrnten. Auch die oben angeführten Novellen,
zwei aus dem Gebiete der Dorfgeschichten und eine, die ihr Muster halb in den
Leiden Werthers, halb in den Hcrzcnsgeschichtcn der englischen Gouvernanten hat,
wollen nicht viel bedeuten. Das Mädchentagcbuch „Unheilbar" leidet, von einzelnen
Stücken abgesehen, die den Eindruck des Ganzen aber nicht wesentlich ändern,
geradezu am schlimmsten Fehler, den eine Novelle haben kann: es langweilt. Die
zweite Novelle: „Der Kinder Sünde der Väter Fluch" beginnt in anmuthiger Weise
und zeigt uns in Filomena, einer der Hauptfiguren, ein Mädchen, die von einem
gewissen märchenhaften Zauber umflossen ist, wird aber im weitern Verlauf zur
bloßen schauerlichen Mordgeschichte. Besser ist „der Weinhüter", eine Erzählung
mit dem oft schon behandelten Thema, daß zwei Geschwister anders für einander
empfinden, als die Sitte Geschwistern gestattet, von der daraus sich entwickelnden
Gewisscnspein aber endlich erlöst werden, indem die Ahnung, daß sie in Wahrheit
nicht Geschwister sind. zur Gewißheit erhoben wird. Die Stärke Hcyscs ist zunächst
sein Sinn für das künstlerische Ebenmaß, dann seine schöne Sprache. Er versteht
ferner vortrefflich zu erzählen, häufig auch die Stimmung, namentlich in der Land¬
schaft zu treffen. Die eigentliche Leidenschaft dagegen gebt ihm ab, wenigstens ver¬
schmäht er in der Regel, sie auftreten zu lassen, und so läßt er uns meist kalt,
zumal da seinen Personen großentheils die rechte sinnliche Wahrheit fehlt. Wie ganz
anders greift uns da eine Novelle von Kleist an die Seele trotz ihrer bisweilen
ungefügen Sprache und trotz des Gespenstes, welches bei allen im Hintergründe steht!


Der Rosengarten des Scheikh Muslih-eddin Sa'ti aus Schiras.
Aus dem Persischen übersetzt von G. H. F^ Nesselmann. Berlin, Wcidmannschc
Buchhandlung. 1864.

Im Vergleich mit Graff Uebertragung des Gulistan durch größere Herrschaft
über die deutsche Sprache und bessere Reime ausgezeichnet und eleganter ausgestattet,
auch durch Weglassung einiger anstößigen Stellen der Damenwelt lesbar gemacht,
bei welcher, wie das Vorwort behauptet und wie uns neu ist, „gerade die persische
Poesie sich einer besonders günstigen Aufnahme zu erfreuen fcheint." Wenn der
Uebersetzer mit seinen Anmerkungen weniger sparsam gewesen wäre so würde dies
mit Dank anzunehmen sein. Für Gelehrte wird das Meiste verständlich sein, ob
aber die Damenwelt in gleichem Falle ist, möchten wir bezweifeln.


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[0406] Vermischte Literatur. Meraner Novellen von Paul Heyse. Fünfte Sammlung. Berlin, Verlag von Wilhelm Hertz. 1864. Die letzten Monate haben wie die früheren eine beträchtliche Anzahl von Romane» und Novellen auf den Markt gebracht, aber, was schon seit geraumer Zeit zu bemerken, eine Bereicherung unsrer Literatur vermochten wir, einige wenige Bücher, Fritz Reuters „Ut mine Stromtid" z. B. ausgenommen, darin nicht zu erblicken. Unsre Zeit scheint überhaupt der Belletristik nicht recht günstig zu sein; denn auch auf dem Gebiet der lyrischen und dramatischen Production waren die Ernten in den letzten Jahren kaum Mittelcrnten. Auch die oben angeführten Novellen, zwei aus dem Gebiete der Dorfgeschichten und eine, die ihr Muster halb in den Leiden Werthers, halb in den Hcrzcnsgeschichtcn der englischen Gouvernanten hat, wollen nicht viel bedeuten. Das Mädchentagcbuch „Unheilbar" leidet, von einzelnen Stücken abgesehen, die den Eindruck des Ganzen aber nicht wesentlich ändern, geradezu am schlimmsten Fehler, den eine Novelle haben kann: es langweilt. Die zweite Novelle: „Der Kinder Sünde der Väter Fluch" beginnt in anmuthiger Weise und zeigt uns in Filomena, einer der Hauptfiguren, ein Mädchen, die von einem gewissen märchenhaften Zauber umflossen ist, wird aber im weitern Verlauf zur bloßen schauerlichen Mordgeschichte. Besser ist „der Weinhüter", eine Erzählung mit dem oft schon behandelten Thema, daß zwei Geschwister anders für einander empfinden, als die Sitte Geschwistern gestattet, von der daraus sich entwickelnden Gewisscnspein aber endlich erlöst werden, indem die Ahnung, daß sie in Wahrheit nicht Geschwister sind. zur Gewißheit erhoben wird. Die Stärke Hcyscs ist zunächst sein Sinn für das künstlerische Ebenmaß, dann seine schöne Sprache. Er versteht ferner vortrefflich zu erzählen, häufig auch die Stimmung, namentlich in der Land¬ schaft zu treffen. Die eigentliche Leidenschaft dagegen gebt ihm ab, wenigstens ver¬ schmäht er in der Regel, sie auftreten zu lassen, und so läßt er uns meist kalt, zumal da seinen Personen großentheils die rechte sinnliche Wahrheit fehlt. Wie ganz anders greift uns da eine Novelle von Kleist an die Seele trotz ihrer bisweilen ungefügen Sprache und trotz des Gespenstes, welches bei allen im Hintergründe steht! Der Rosengarten des Scheikh Muslih-eddin Sa'ti aus Schiras. Aus dem Persischen übersetzt von G. H. F^ Nesselmann. Berlin, Wcidmannschc Buchhandlung. 1864. Im Vergleich mit Graff Uebertragung des Gulistan durch größere Herrschaft über die deutsche Sprache und bessere Reime ausgezeichnet und eleganter ausgestattet, auch durch Weglassung einiger anstößigen Stellen der Damenwelt lesbar gemacht, bei welcher, wie das Vorwort behauptet und wie uns neu ist, „gerade die persische Poesie sich einer besonders günstigen Aufnahme zu erfreuen fcheint." Wenn der Uebersetzer mit seinen Anmerkungen weniger sparsam gewesen wäre so würde dies mit Dank anzunehmen sein. Für Gelehrte wird das Meiste verständlich sein, ob aber die Damenwelt in gleichem Falle ist, möchten wir bezweifeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/406>, abgerufen am 28.09.2024.