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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Dann aber hat die Sache auch eine politische Seite. Die deutsche Literatur
hat sich vielfach an eine fremde angelehnt, weil es ihr an einer in sich geschlossenen,
an sich selbst genug habenden Nationalität gefehlt hat. Wie bei Individuen
die entschiedensten und kraftvollsten Charaktere auf die charakterschwachen den
größten Einfluß haben, so haben auf die kosmopolitische deutsche Literatur die
Literaturen derjenigen Nationen am meisten eingewirkt, welche die ausgeprägteste
Nationalität besitzen, vor allen also die der Engländer und Franzosen. Die
Deutschen sind noch immer kein völlig gleichberechtigtes und gleichkräftiges Volks¬
individuum neben andern Voltsindividnen. Von der Zeit an, wo die Deutschen
einen Anlauf nahmen, eine Nation zu werden, sind auch die fremden Einflüsse
auf ihre Literatur schwächer geworden. Deutlich ist zu erkennen, daß seit dem
classischen Zeitalter unsrer Literatur unser Nationalgefühl wesentlich erstarkt ist,
und daß wir in einem stetigen Fortschreiten auf dieser Bahn begriffen sind.
Allerdings ist selbst in der Gegenwart der Einfluß der Fremde auf unser lite¬
rarisches Schaffen noch ziemlich merkbar. Niemand wird läugnen, daß Scotts
Romane, Byron, Bulwer und Dickens sehr bedeutend auf die deutsche Dichtung
eingewirkt haben, und daß Macaulay in gewissem Sinn das Vorbild für deutsche
Historiker geworden ist, welche sich besondrer Beliebtheit erfreuen. Allein, wenn
wir uns nicht täuschen, so verhalte" wir uns dem Auslande gegenüber auch
auf dem Gebiet der literarischen Thätigkeit jetzt freier und selbstbewußter, unsre
Literatur ist nicht mehr die Wetterfahne, die sich bei jedem poetischen Windstoß
aus England dreht, und ist erst der deutsche Staat errungen, so werden wir noch
Besseres erleben. "Wahr ists," fährt Herder in einer Vorahnung freierer und
reicherer Tage fort, "wir kamen zu spät; desto jünger aber sind wir. Wir
haben noch viel zu thun, indeß andere ruhen, weil sie das Ihrige geleistet
haben. -- Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten, so
wären wir unter ihnen das, was der Mensch .gegen alle die Neben- und Mit¬
geschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, fah jedem seine
Art ab und übertrifft oder regiert sie alle."

Herder hält dann Musterung über, die Anfänge zum Besseren und über die
Vorläufer des nationalen Charakters unsrer Literatur. Gerade die englischen
Einflüsse aber sind es gewesen, welche diese nationale Kräftigung gefördert
haben; denn von Anfang an waren sie stammverwandt, und von der natürlichen
Verbindung der beiden Nationen nach Abkunft und Religion ausgehend, haben
sie aus Sprache, Literatur, Charakter unsres Volkes niemals oder doch sel¬
ten eine schädliche, sehr oft dagegen eine heilsame Wirkung geübt. Im
geraden Gegensatz hierzu hat der von den Höfen und dem Adel aus ins Volk
gedrungene französische Einfluß unsre Sprache entstellt, unsre Literatur in ihrer
Entwickelung aufgehalten und auf den Charakter unsres Volkes ungünstig ge¬
wirkt. Niemals hat sich das deutsche Nationalgefühl gegen den englischen


Grenzboten III. 1864. 32

Dann aber hat die Sache auch eine politische Seite. Die deutsche Literatur
hat sich vielfach an eine fremde angelehnt, weil es ihr an einer in sich geschlossenen,
an sich selbst genug habenden Nationalität gefehlt hat. Wie bei Individuen
die entschiedensten und kraftvollsten Charaktere auf die charakterschwachen den
größten Einfluß haben, so haben auf die kosmopolitische deutsche Literatur die
Literaturen derjenigen Nationen am meisten eingewirkt, welche die ausgeprägteste
Nationalität besitzen, vor allen also die der Engländer und Franzosen. Die
Deutschen sind noch immer kein völlig gleichberechtigtes und gleichkräftiges Volks¬
individuum neben andern Voltsindividnen. Von der Zeit an, wo die Deutschen
einen Anlauf nahmen, eine Nation zu werden, sind auch die fremden Einflüsse
auf ihre Literatur schwächer geworden. Deutlich ist zu erkennen, daß seit dem
classischen Zeitalter unsrer Literatur unser Nationalgefühl wesentlich erstarkt ist,
und daß wir in einem stetigen Fortschreiten auf dieser Bahn begriffen sind.
Allerdings ist selbst in der Gegenwart der Einfluß der Fremde auf unser lite¬
rarisches Schaffen noch ziemlich merkbar. Niemand wird läugnen, daß Scotts
Romane, Byron, Bulwer und Dickens sehr bedeutend auf die deutsche Dichtung
eingewirkt haben, und daß Macaulay in gewissem Sinn das Vorbild für deutsche
Historiker geworden ist, welche sich besondrer Beliebtheit erfreuen. Allein, wenn
wir uns nicht täuschen, so verhalte» wir uns dem Auslande gegenüber auch
auf dem Gebiet der literarischen Thätigkeit jetzt freier und selbstbewußter, unsre
Literatur ist nicht mehr die Wetterfahne, die sich bei jedem poetischen Windstoß
aus England dreht, und ist erst der deutsche Staat errungen, so werden wir noch
Besseres erleben. „Wahr ists," fährt Herder in einer Vorahnung freierer und
reicherer Tage fort, „wir kamen zu spät; desto jünger aber sind wir. Wir
haben noch viel zu thun, indeß andere ruhen, weil sie das Ihrige geleistet
haben. — Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten, so
wären wir unter ihnen das, was der Mensch .gegen alle die Neben- und Mit¬
geschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, fah jedem seine
Art ab und übertrifft oder regiert sie alle."

Herder hält dann Musterung über, die Anfänge zum Besseren und über die
Vorläufer des nationalen Charakters unsrer Literatur. Gerade die englischen
Einflüsse aber sind es gewesen, welche diese nationale Kräftigung gefördert
haben; denn von Anfang an waren sie stammverwandt, und von der natürlichen
Verbindung der beiden Nationen nach Abkunft und Religion ausgehend, haben
sie aus Sprache, Literatur, Charakter unsres Volkes niemals oder doch sel¬
ten eine schädliche, sehr oft dagegen eine heilsame Wirkung geübt. Im
geraden Gegensatz hierzu hat der von den Höfen und dem Adel aus ins Volk
gedrungene französische Einfluß unsre Sprache entstellt, unsre Literatur in ihrer
Entwickelung aufgehalten und auf den Charakter unsres Volkes ungünstig ge¬
wirkt. Niemals hat sich das deutsche Nationalgefühl gegen den englischen


Grenzboten III. 1864. 32
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[0257] Dann aber hat die Sache auch eine politische Seite. Die deutsche Literatur hat sich vielfach an eine fremde angelehnt, weil es ihr an einer in sich geschlossenen, an sich selbst genug habenden Nationalität gefehlt hat. Wie bei Individuen die entschiedensten und kraftvollsten Charaktere auf die charakterschwachen den größten Einfluß haben, so haben auf die kosmopolitische deutsche Literatur die Literaturen derjenigen Nationen am meisten eingewirkt, welche die ausgeprägteste Nationalität besitzen, vor allen also die der Engländer und Franzosen. Die Deutschen sind noch immer kein völlig gleichberechtigtes und gleichkräftiges Volks¬ individuum neben andern Voltsindividnen. Von der Zeit an, wo die Deutschen einen Anlauf nahmen, eine Nation zu werden, sind auch die fremden Einflüsse auf ihre Literatur schwächer geworden. Deutlich ist zu erkennen, daß seit dem classischen Zeitalter unsrer Literatur unser Nationalgefühl wesentlich erstarkt ist, und daß wir in einem stetigen Fortschreiten auf dieser Bahn begriffen sind. Allerdings ist selbst in der Gegenwart der Einfluß der Fremde auf unser lite¬ rarisches Schaffen noch ziemlich merkbar. Niemand wird läugnen, daß Scotts Romane, Byron, Bulwer und Dickens sehr bedeutend auf die deutsche Dichtung eingewirkt haben, und daß Macaulay in gewissem Sinn das Vorbild für deutsche Historiker geworden ist, welche sich besondrer Beliebtheit erfreuen. Allein, wenn wir uns nicht täuschen, so verhalte» wir uns dem Auslande gegenüber auch auf dem Gebiet der literarischen Thätigkeit jetzt freier und selbstbewußter, unsre Literatur ist nicht mehr die Wetterfahne, die sich bei jedem poetischen Windstoß aus England dreht, und ist erst der deutsche Staat errungen, so werden wir noch Besseres erleben. „Wahr ists," fährt Herder in einer Vorahnung freierer und reicherer Tage fort, „wir kamen zu spät; desto jünger aber sind wir. Wir haben noch viel zu thun, indeß andere ruhen, weil sie das Ihrige geleistet haben. — Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten, so wären wir unter ihnen das, was der Mensch .gegen alle die Neben- und Mit¬ geschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, fah jedem seine Art ab und übertrifft oder regiert sie alle." Herder hält dann Musterung über, die Anfänge zum Besseren und über die Vorläufer des nationalen Charakters unsrer Literatur. Gerade die englischen Einflüsse aber sind es gewesen, welche diese nationale Kräftigung gefördert haben; denn von Anfang an waren sie stammverwandt, und von der natürlichen Verbindung der beiden Nationen nach Abkunft und Religion ausgehend, haben sie aus Sprache, Literatur, Charakter unsres Volkes niemals oder doch sel¬ ten eine schädliche, sehr oft dagegen eine heilsame Wirkung geübt. Im geraden Gegensatz hierzu hat der von den Höfen und dem Adel aus ins Volk gedrungene französische Einfluß unsre Sprache entstellt, unsre Literatur in ihrer Entwickelung aufgehalten und auf den Charakter unsres Volkes ungünstig ge¬ wirkt. Niemals hat sich das deutsche Nationalgefühl gegen den englischen Grenzboten III. 1864. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/257>, abgerufen am 28.09.2024.