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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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riß und stirbt. Tell, zur Leiche gewendet, spricht das historisch bekannte
tiop-diri ä:

Wir haben es hier auf keine ästhetische Beurtheilung der mitgetheilten Dramen
abgesehen, sondern nehmen die literarhistorische Wirkung aller zum Ziele. Auch
ohne unsre Beihilfe leuchten jedem Leser die dichterischen Schwächen ein, an
denen Henzis Stück leidet. Der Zufall treibt das Ganze, nicht die ureigne
Bestimmtheit des Charakters, weder eines Tell, noch eines Grisler; es ist
nicht eine Kette von sich bedingenden und dadurch nothwendig sich steigernden
Handlungen, sondern eine Neihe zufälliger Ereignisse, unabhängig von dem
Entschlüsse der Personen. Die Scenen gehen nicht aus einander hervor, weil
nicht treibende, nicht geistig active Personen hinter ihnen stehen, sie folgen nur
bilderbogenartig nach einander. Dieser Leinhard. Werner, Adolf und Rosine
sind lauter Schattenbilder; auch die Hauptpersonen Tell, Hedwig und Grisler
haben keinen Knochenbau. An die Stelle von Teils Knaben ist eigenmächtig
ein Mädchen gerückt, und der Apfelschuß wir.d an ihr nur zu dem eiteln Zwecke
vollzogen, um mit ihr dem Landvogtssohn eine um so interessantere Geliebte
geben zu können. Welch ein Sohn, dieser Adolf, der, während sein erschla¬
gener Vater herbeigeschleppt wird, sich demokratisch jubelnd an die Seite von
dessen Mörder stellt, ja dessen Tochter gleichzeitig zum Weibe nimmt. Und den¬
noch hat ein großer Vorzug an diesem Stücke gehaftet und muß einmal von
Wirkung gewesen sein, wenn schon unsre Zeit beides nicht mehr darüber zu
empfinden vermag. Darum mußte es anonym und ohne Angabe des Druck¬
ortes erscheinen und blieb auch so noch der damaligen Censur ein dermaßen
gefürchtetes Libell, daß man auf der berner Bibliothek kein Exemplar mehr
davon besitzt, und auf der noch reicheren züricher Stadtbibliothek nur dieses
eine uns vorliegende Exemplar unter langem Nachsuchen zuletzt ausfindig ge¬
macht hat.

Der Name Grisler, unter welchem Henzis Stück erschien, mußte damals
für das schweizerische Publicum ein allgemein verständlicher sein; das bedingt
schon des Verfassers oder seines nachherigen Herausgebers Zweck. Heut zu
Tage verstände unser Publicum diesen gleichen Namen nicht mehr, also bedarf
es hier einer Erklärung, wie aus einem früheren Landvogtsnamen Grisler der
nun allein geltende Geßler hervorgegangen ist.

Im Tellenliede und im urner Tellcnspicl führt der Landvogt noch gar
keinen Eigennamen. Ruoffs Tcllenschauspiel nennt ihn Grisler; ebenso thut
Henzis Tragödie. Dieser Name zeigt sich bei den Chronisten lange Zeit als
der allein giltige Vogtsname. Eine Zusammenreihung der Quellen soll dies
darlegen.


riß und stirbt. Tell, zur Leiche gewendet, spricht das historisch bekannte
tiop-diri ä:

Wir haben es hier auf keine ästhetische Beurtheilung der mitgetheilten Dramen
abgesehen, sondern nehmen die literarhistorische Wirkung aller zum Ziele. Auch
ohne unsre Beihilfe leuchten jedem Leser die dichterischen Schwächen ein, an
denen Henzis Stück leidet. Der Zufall treibt das Ganze, nicht die ureigne
Bestimmtheit des Charakters, weder eines Tell, noch eines Grisler; es ist
nicht eine Kette von sich bedingenden und dadurch nothwendig sich steigernden
Handlungen, sondern eine Neihe zufälliger Ereignisse, unabhängig von dem
Entschlüsse der Personen. Die Scenen gehen nicht aus einander hervor, weil
nicht treibende, nicht geistig active Personen hinter ihnen stehen, sie folgen nur
bilderbogenartig nach einander. Dieser Leinhard. Werner, Adolf und Rosine
sind lauter Schattenbilder; auch die Hauptpersonen Tell, Hedwig und Grisler
haben keinen Knochenbau. An die Stelle von Teils Knaben ist eigenmächtig
ein Mädchen gerückt, und der Apfelschuß wir.d an ihr nur zu dem eiteln Zwecke
vollzogen, um mit ihr dem Landvogtssohn eine um so interessantere Geliebte
geben zu können. Welch ein Sohn, dieser Adolf, der, während sein erschla¬
gener Vater herbeigeschleppt wird, sich demokratisch jubelnd an die Seite von
dessen Mörder stellt, ja dessen Tochter gleichzeitig zum Weibe nimmt. Und den¬
noch hat ein großer Vorzug an diesem Stücke gehaftet und muß einmal von
Wirkung gewesen sein, wenn schon unsre Zeit beides nicht mehr darüber zu
empfinden vermag. Darum mußte es anonym und ohne Angabe des Druck¬
ortes erscheinen und blieb auch so noch der damaligen Censur ein dermaßen
gefürchtetes Libell, daß man auf der berner Bibliothek kein Exemplar mehr
davon besitzt, und auf der noch reicheren züricher Stadtbibliothek nur dieses
eine uns vorliegende Exemplar unter langem Nachsuchen zuletzt ausfindig ge¬
macht hat.

Der Name Grisler, unter welchem Henzis Stück erschien, mußte damals
für das schweizerische Publicum ein allgemein verständlicher sein; das bedingt
schon des Verfassers oder seines nachherigen Herausgebers Zweck. Heut zu
Tage verstände unser Publicum diesen gleichen Namen nicht mehr, also bedarf
es hier einer Erklärung, wie aus einem früheren Landvogtsnamen Grisler der
nun allein geltende Geßler hervorgegangen ist.

Im Tellenliede und im urner Tellcnspicl führt der Landvogt noch gar
keinen Eigennamen. Ruoffs Tcllenschauspiel nennt ihn Grisler; ebenso thut
Henzis Tragödie. Dieser Name zeigt sich bei den Chronisten lange Zeit als
der allein giltige Vogtsname. Eine Zusammenreihung der Quellen soll dies
darlegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/237>, abgerufen am 28.09.2024.