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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Weise, daß man den Botanten anfühlte, wie wenig Glauben sie an ihren
eigenen Rath hatten. Schon damals kam er um zwei Monate zu spät. Un¬
möglich konnte die Kammer heute Herrn Oesterlen folgen, der, als ob inzwischen
nichts geschehen wäre, noch immer in demselben Ideenkreise festsitzt. Vergebens
wurde sie bei ihrer Ehre daran erinnert, daß sie ja damals selbst den v. schadschen
Antrag angenommen habe. Herr Oesterlen erhielt für sein rcindeutsches Bünd-
niß sieben ganze Stimmen, der Sturm der Kleinen gegen den großmächtlichen
Particularismus war abgeschlagen, nicht aber die Zuversicht des Antragstellers
erschüttert. Bei dem Passus über die deutsche Frage war Gelegenheit, dieselbe
Melodie wieder auszuspielen.

Hölder hatte sich bei der gegenwärtigen Lage, die wahrlich nicht zu theo¬
retischen Discussionen über die Bundesreform einladet, auf den einfachsten Aus¬
druck der unverrückbaren Forderungen der nationalen Partei beschränkt, die sich
in den zwei Worten: Gesammtvertretung Deutschlands und Einsetzung einer
über den einzelnen Regierungen stehenden Centralgewalt zusammenfasse". Ge¬
wiß hatte auch in diesem Augenblick niemand Lust, ein Thema, das hinreichend
durchgesprochen ist, von Neuem zu erörtern. Herr Oesterlen aber, in dessen Kopf
Preußen und Oestreich bereits zum "übrigen Deutschland" geworden sind, kam
auf seine Idee zurück, daß die kleineren Staaten selbständig mit dem Reform¬
werk beginnen und dadurch einen Kern schaffen müßten, an welchen das übrige
Deutschland sich allmälig anschließen könne -- offenbar gestützt auf ganz neue,
bisher unbekannte physikalische Gesetze, nach welchen kleine lose Körper die
Kraft haben, große consolidirte Massen anzuziehen. Die Debatte über diesen
Punkt war sehr kurz. Adolf Seeger, der während der ganzen Berathung nur
zweimal das Wort ergriff, aber beide Mal seine ganze schneidige Kraft zeigte,
erwiderte in schlagenden Sätzen, wies die Triasidce als den Ausfluß eines
noch nicht überwundenen Particularismus und des Prenßenhasses nach, und
Herr Oesterlen, der weder zu erwidern noch sein Amendement wieder von
sieben Schwaben Votiren zu lassen Lust hatte, zog dasselbe vor der Abstimmung zu¬
rück. Es war ihm zu gönnen, daß ihm die Vergewaltigung Rendsburgs durch
die Preußen noch Gelegenheit zur Beantragung eines feierlichen Protestes gab,
der noch in der letzten Sitzung am 26. einstimmig von der Kammer adoptirt
wurde. Es ging an diesem Morgen etwas heiß her, und man darf, da das
Bertaguugsdecret bereits auf dem Tische lag, nicht gerade jedes Wort, das bei
solcher Eile entschlüpfte, auf die Goldwage legen.

Absichtlich nichtssagend war der Passus der Adresse über die handelspoli¬
tische Krise. Es hatten sich alle Parteien vereinigt, an diese kitzliche Frage
gar nicht zu rühren. Wozu hätte auch eine Debatte nützen sollen! Entweder
hätte sich das langverhaltene, auf beiden Seiten aufgesammelte Material in einer
endlosen, gereizten und doch völlig nutzlosen Berathung entladen, oder man


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Weise, daß man den Botanten anfühlte, wie wenig Glauben sie an ihren
eigenen Rath hatten. Schon damals kam er um zwei Monate zu spät. Un¬
möglich konnte die Kammer heute Herrn Oesterlen folgen, der, als ob inzwischen
nichts geschehen wäre, noch immer in demselben Ideenkreise festsitzt. Vergebens
wurde sie bei ihrer Ehre daran erinnert, daß sie ja damals selbst den v. schadschen
Antrag angenommen habe. Herr Oesterlen erhielt für sein rcindeutsches Bünd-
niß sieben ganze Stimmen, der Sturm der Kleinen gegen den großmächtlichen
Particularismus war abgeschlagen, nicht aber die Zuversicht des Antragstellers
erschüttert. Bei dem Passus über die deutsche Frage war Gelegenheit, dieselbe
Melodie wieder auszuspielen.

Hölder hatte sich bei der gegenwärtigen Lage, die wahrlich nicht zu theo¬
retischen Discussionen über die Bundesreform einladet, auf den einfachsten Aus¬
druck der unverrückbaren Forderungen der nationalen Partei beschränkt, die sich
in den zwei Worten: Gesammtvertretung Deutschlands und Einsetzung einer
über den einzelnen Regierungen stehenden Centralgewalt zusammenfasse». Ge¬
wiß hatte auch in diesem Augenblick niemand Lust, ein Thema, das hinreichend
durchgesprochen ist, von Neuem zu erörtern. Herr Oesterlen aber, in dessen Kopf
Preußen und Oestreich bereits zum „übrigen Deutschland" geworden sind, kam
auf seine Idee zurück, daß die kleineren Staaten selbständig mit dem Reform¬
werk beginnen und dadurch einen Kern schaffen müßten, an welchen das übrige
Deutschland sich allmälig anschließen könne — offenbar gestützt auf ganz neue,
bisher unbekannte physikalische Gesetze, nach welchen kleine lose Körper die
Kraft haben, große consolidirte Massen anzuziehen. Die Debatte über diesen
Punkt war sehr kurz. Adolf Seeger, der während der ganzen Berathung nur
zweimal das Wort ergriff, aber beide Mal seine ganze schneidige Kraft zeigte,
erwiderte in schlagenden Sätzen, wies die Triasidce als den Ausfluß eines
noch nicht überwundenen Particularismus und des Prenßenhasses nach, und
Herr Oesterlen, der weder zu erwidern noch sein Amendement wieder von
sieben Schwaben Votiren zu lassen Lust hatte, zog dasselbe vor der Abstimmung zu¬
rück. Es war ihm zu gönnen, daß ihm die Vergewaltigung Rendsburgs durch
die Preußen noch Gelegenheit zur Beantragung eines feierlichen Protestes gab,
der noch in der letzten Sitzung am 26. einstimmig von der Kammer adoptirt
wurde. Es ging an diesem Morgen etwas heiß her, und man darf, da das
Bertaguugsdecret bereits auf dem Tische lag, nicht gerade jedes Wort, das bei
solcher Eile entschlüpfte, auf die Goldwage legen.

Absichtlich nichtssagend war der Passus der Adresse über die handelspoli¬
tische Krise. Es hatten sich alle Parteien vereinigt, an diese kitzliche Frage
gar nicht zu rühren. Wozu hätte auch eine Debatte nützen sollen! Entweder
hätte sich das langverhaltene, auf beiden Seiten aufgesammelte Material in einer
endlosen, gereizten und doch völlig nutzlosen Berathung entladen, oder man


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[0227] Weise, daß man den Botanten anfühlte, wie wenig Glauben sie an ihren eigenen Rath hatten. Schon damals kam er um zwei Monate zu spät. Un¬ möglich konnte die Kammer heute Herrn Oesterlen folgen, der, als ob inzwischen nichts geschehen wäre, noch immer in demselben Ideenkreise festsitzt. Vergebens wurde sie bei ihrer Ehre daran erinnert, daß sie ja damals selbst den v. schadschen Antrag angenommen habe. Herr Oesterlen erhielt für sein rcindeutsches Bünd- niß sieben ganze Stimmen, der Sturm der Kleinen gegen den großmächtlichen Particularismus war abgeschlagen, nicht aber die Zuversicht des Antragstellers erschüttert. Bei dem Passus über die deutsche Frage war Gelegenheit, dieselbe Melodie wieder auszuspielen. Hölder hatte sich bei der gegenwärtigen Lage, die wahrlich nicht zu theo¬ retischen Discussionen über die Bundesreform einladet, auf den einfachsten Aus¬ druck der unverrückbaren Forderungen der nationalen Partei beschränkt, die sich in den zwei Worten: Gesammtvertretung Deutschlands und Einsetzung einer über den einzelnen Regierungen stehenden Centralgewalt zusammenfasse». Ge¬ wiß hatte auch in diesem Augenblick niemand Lust, ein Thema, das hinreichend durchgesprochen ist, von Neuem zu erörtern. Herr Oesterlen aber, in dessen Kopf Preußen und Oestreich bereits zum „übrigen Deutschland" geworden sind, kam auf seine Idee zurück, daß die kleineren Staaten selbständig mit dem Reform¬ werk beginnen und dadurch einen Kern schaffen müßten, an welchen das übrige Deutschland sich allmälig anschließen könne — offenbar gestützt auf ganz neue, bisher unbekannte physikalische Gesetze, nach welchen kleine lose Körper die Kraft haben, große consolidirte Massen anzuziehen. Die Debatte über diesen Punkt war sehr kurz. Adolf Seeger, der während der ganzen Berathung nur zweimal das Wort ergriff, aber beide Mal seine ganze schneidige Kraft zeigte, erwiderte in schlagenden Sätzen, wies die Triasidce als den Ausfluß eines noch nicht überwundenen Particularismus und des Prenßenhasses nach, und Herr Oesterlen, der weder zu erwidern noch sein Amendement wieder von sieben Schwaben Votiren zu lassen Lust hatte, zog dasselbe vor der Abstimmung zu¬ rück. Es war ihm zu gönnen, daß ihm die Vergewaltigung Rendsburgs durch die Preußen noch Gelegenheit zur Beantragung eines feierlichen Protestes gab, der noch in der letzten Sitzung am 26. einstimmig von der Kammer adoptirt wurde. Es ging an diesem Morgen etwas heiß her, und man darf, da das Bertaguugsdecret bereits auf dem Tische lag, nicht gerade jedes Wort, das bei solcher Eile entschlüpfte, auf die Goldwage legen. Absichtlich nichtssagend war der Passus der Adresse über die handelspoli¬ tische Krise. Es hatten sich alle Parteien vereinigt, an diese kitzliche Frage gar nicht zu rühren. Wozu hätte auch eine Debatte nützen sollen! Entweder hätte sich das langverhaltene, auf beiden Seiten aufgesammelte Material in einer endlosen, gereizten und doch völlig nutzlosen Berathung entladen, oder man 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/227>, abgerufen am 28.09.2024.