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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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dächtnißmahles, von welcher derjenige Evangelist nichts weiß, den man so gern
als den zuverlässigsten Erzähler betrachtete, oder über den Todestag Jesu, der
von den Synoptikern auf den Tag nach dem Passahfeste, von Johannes aus das
Passahfest selbst verlegt wird. In allen diesen und anderen Fällen konnte aus¬
schließlich nur die eine Darstellung historisch sein; aber für welche sich ent¬
scheiden? Es ist klar, so lange man einfach die verschiedenen Relationen
einander gegenüberstellte, war geschichtlich Sicheres nicht auszumitteln; man
sah sich im günstigsten Fall auf Wahrscheinlichkeitsgründe gewiesen, die sich
aus der Prüfung der einzelne" Erzählungen ergaben. Allein gerade das Er¬
gebniß, daß die wichtigsten Differenzen sich so vertheilen, daß aus der einen
Seite die drei ersten Evangelisten stehen, auf der anderen Johannes, mußte zu
einer ganz anderen Fragstellung leiten. Ist die Differenz zwischen beiden Ge¬
schichtserzählungen eine so durchgreifende, daß nur die eine oder die andere in
ihrem Recht sein kann, so kommt es nicht mehr darauf an, auf jedem einzelnen
Punkte den Widerspruch zu constatiren, sondern nach den tieferen Gründen zu
forschen, ans welchen eine so principielle Verschiedenheit beruht. Die Evangelien
mußten abgesondert für sich auf ihre Gesammthaltung, auf ihre Tendenz, auf
den beherrschenden Gesichtspunkt ihrer Erzählung angesehen werden, und dies
mußte sofort zu der Wahrnehmung führen, daß der mythische Gesichtspunkt, um
die Bildung der Evangelienliteratnr zu erklären, nicht ausreicht, daß hier viel¬
mehr dogmatische Momente mitwirkten, welche nun eben das Hauptlriterium
für die gegenseitige Unterscheidung der Evangelien sind. Mit anderen Worten:
einer Kritik des Lebens Jesu mußte eine Kritik der Evangelien vorausgehen.

Wie es mit der Kritik der Evangelien damals stand, zeigen am besten die
wenigen einleitenden Worte, die sich bei Strauß darüber finden. Er begnügt
sich mit dem Nachweis, daß die Augenzeugenschaft oder ein solches Verhältniß
zu Augenzeugen, welches das Eindringen von Mythen in die christliche Ueber¬
lieferung undenkbar machte, von keinem Verfasser unserer Evangelien durch
äußere Zeugnisse zu beweisen sei, es sei also rein nach inneren Gründen bei
den einzelnen Erzählungen zu entscheiden, ob sie eine historische oder eine mythische
Erklärung verlangen. Allein bemerkenswert!) ist nun, daß Strauß eben auf diesem
Wege, auf dem Weg der Einzelkrillk vielfach schon auf dieselben Resultate
kommt, welche durch die späteren Forschungen bestätigt und vervollständigt
worden sind. Die grundsätzliche Verschiedenheit des Jvhannesevangcliums von
den drei anderen entging ihm um so weniger als sie ihm auf allen einzelnen
Punkten wieder aufstieß. Vielfach ist schon von der idealisierenden, einheitlichen,
absichtlrch verherrlichenden Darstellung des vierten Evangelisten die Rede, wie auch
auf die dogmatische Tendenz andrer Evangelien gelegentlich ein Licht fällt. Wo
dann die Berichte der Evangelien auseinandergehen, werden mit gründlichster
Gewissenhaftigkeit die Gründe für und wider jede Darstellung abgewogen;


Grenzboten II. 18K4. 7

dächtnißmahles, von welcher derjenige Evangelist nichts weiß, den man so gern
als den zuverlässigsten Erzähler betrachtete, oder über den Todestag Jesu, der
von den Synoptikern auf den Tag nach dem Passahfeste, von Johannes aus das
Passahfest selbst verlegt wird. In allen diesen und anderen Fällen konnte aus¬
schließlich nur die eine Darstellung historisch sein; aber für welche sich ent¬
scheiden? Es ist klar, so lange man einfach die verschiedenen Relationen
einander gegenüberstellte, war geschichtlich Sicheres nicht auszumitteln; man
sah sich im günstigsten Fall auf Wahrscheinlichkeitsgründe gewiesen, die sich
aus der Prüfung der einzelne» Erzählungen ergaben. Allein gerade das Er¬
gebniß, daß die wichtigsten Differenzen sich so vertheilen, daß aus der einen
Seite die drei ersten Evangelisten stehen, auf der anderen Johannes, mußte zu
einer ganz anderen Fragstellung leiten. Ist die Differenz zwischen beiden Ge¬
schichtserzählungen eine so durchgreifende, daß nur die eine oder die andere in
ihrem Recht sein kann, so kommt es nicht mehr darauf an, auf jedem einzelnen
Punkte den Widerspruch zu constatiren, sondern nach den tieferen Gründen zu
forschen, ans welchen eine so principielle Verschiedenheit beruht. Die Evangelien
mußten abgesondert für sich auf ihre Gesammthaltung, auf ihre Tendenz, auf
den beherrschenden Gesichtspunkt ihrer Erzählung angesehen werden, und dies
mußte sofort zu der Wahrnehmung führen, daß der mythische Gesichtspunkt, um
die Bildung der Evangelienliteratnr zu erklären, nicht ausreicht, daß hier viel¬
mehr dogmatische Momente mitwirkten, welche nun eben das Hauptlriterium
für die gegenseitige Unterscheidung der Evangelien sind. Mit anderen Worten:
einer Kritik des Lebens Jesu mußte eine Kritik der Evangelien vorausgehen.

Wie es mit der Kritik der Evangelien damals stand, zeigen am besten die
wenigen einleitenden Worte, die sich bei Strauß darüber finden. Er begnügt
sich mit dem Nachweis, daß die Augenzeugenschaft oder ein solches Verhältniß
zu Augenzeugen, welches das Eindringen von Mythen in die christliche Ueber¬
lieferung undenkbar machte, von keinem Verfasser unserer Evangelien durch
äußere Zeugnisse zu beweisen sei, es sei also rein nach inneren Gründen bei
den einzelnen Erzählungen zu entscheiden, ob sie eine historische oder eine mythische
Erklärung verlangen. Allein bemerkenswert!) ist nun, daß Strauß eben auf diesem
Wege, auf dem Weg der Einzelkrillk vielfach schon auf dieselben Resultate
kommt, welche durch die späteren Forschungen bestätigt und vervollständigt
worden sind. Die grundsätzliche Verschiedenheit des Jvhannesevangcliums von
den drei anderen entging ihm um so weniger als sie ihm auf allen einzelnen
Punkten wieder aufstieß. Vielfach ist schon von der idealisierenden, einheitlichen,
absichtlrch verherrlichenden Darstellung des vierten Evangelisten die Rede, wie auch
auf die dogmatische Tendenz andrer Evangelien gelegentlich ein Licht fällt. Wo
dann die Berichte der Evangelien auseinandergehen, werden mit gründlichster
Gewissenhaftigkeit die Gründe für und wider jede Darstellung abgewogen;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/57>, abgerufen am 23.07.2024.