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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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testamentlichen Studien vor allem das Interesse, nach keiner Seite hin wehe
zu thun. Man nahm mit Emphase das kritische Messer in die Hand, aber es
war in aller Stille stumpf gemacht worden, kein Wunder, daß die kirchliche
Lehre bis auf etliche Nisse unverletzt aus der Operation hervorging. Man
hatte zwar den strengen Offenbarung- und Jnspirationsglauben längst auf¬
gegeben, aber man wollte doch soviel als möglich davon retten, und was man
zuvor offen beseitigt hatte, ließ man heimlich durch emsig geöffnete Hinterthüren
wieder hereinschlüpfen. Man zog die Authentie dieser oder jener Schrift in
Zweifel, aber man war so behutsam, dabei nicht nach ernsten Grundsätzen zu
Verfahren, weiche weitaus den größeren Theil des Kanons gefährden mußten.
Man fühlte wohl das Bedenkliche der Wundercrzählungcn. an welchen sowohl
der Geschmack als die Naturkenntniß der Gegenwart Anstoß nahm. Aber anstatt
sie ein für alle Mal in das Gebiet der Sage zu verweisen, dentelee man an dem
Wunderbegriff in einer Weise, daß wieder die Wissenschaft noch die Kirchenlehre
befriedigt sein konnte, oder man beseitigte hier ein Wunder. schwächte ein
anderes ab. erklärte ein drittes auf natürliche Weise- nirgends verfuhr man
nach einem strengen Gesetz. Man war sich wohl der Wiedersprüche in den
Berichten der Evangelien bewußt, aber man suchte sie auf die künstlichste Weise
zu verschleiern, ja das Widersprechendste zusammenzureimen; höchstens für Neben¬
dinge wurden schriftstellerische Ungenauigkeiten angenommen. Man sah wohl,
daß der Christus der drei ersten Evangelien ein anderer ist als der johanneische. aber
anstatt die Unterschiede mit kritischer Schärfe zu Verfolgen und ihre Gründe zu
erforschen, nahm man keinen Anstand die Züge beider Bilder ineinanderzuschieben,
oder man wählte sich je nach Neigung oder aus dogmatischen Interesse einen
Lieblingsschriftsteller, dessen Darstellung dann die maßgebende war und mit
welcher sich wohl oder übel die anderen vereinigen lassen mußten.

Diesem grundsatzloser Eklekticismus, diesen kleinlichen Ausflüchten einer
Principscbeuen Halbwisscnschaftlichkcit machte Strauß ein Ende, und wenn nach
'hin gleichwohl die Sisyphusarbeit der Harmonistik. d. h. der Versuche, die wider¬
sprechenden evangelischen Berichte zu einer einheitlichen Erzählung zusammen¬
zumengen, nicht aufhörten, so haben ihre Erzeugnisse doch fort und fort an dem
Straußfeder Werk ihre bündigste Kritik. Denn obgleich vieles an demselben
durch spätere Arbeiten weitergeführt oder überholt ist. so behält es doch seine
unerbittliche Beweiskraft gegenüber allen denjenigen Auslcgungsversuchen. welch
auf dem kirchlichen Boden stehend die Voraussetzung theilen, daß uns in den
vier evangelischen Berichten wirkliche Geschichte überliefert sei. Es ist hier ein
Wort am Platze, das Strauß von Reimarus gebraucht: ..sein Nein bleibt Nein,
aber sein Ja hat einem besseren Platz machen müssen." Das heißt, seine Be¬
streitung der kirchlichen Ausfassung der vier Evangelien und aller Versuche,
dieselbe für das moderne Bewußtsein aufzustutzen, bleibt unwiderlegt, überwun-e


testamentlichen Studien vor allem das Interesse, nach keiner Seite hin wehe
zu thun. Man nahm mit Emphase das kritische Messer in die Hand, aber es
war in aller Stille stumpf gemacht worden, kein Wunder, daß die kirchliche
Lehre bis auf etliche Nisse unverletzt aus der Operation hervorging. Man
hatte zwar den strengen Offenbarung- und Jnspirationsglauben längst auf¬
gegeben, aber man wollte doch soviel als möglich davon retten, und was man
zuvor offen beseitigt hatte, ließ man heimlich durch emsig geöffnete Hinterthüren
wieder hereinschlüpfen. Man zog die Authentie dieser oder jener Schrift in
Zweifel, aber man war so behutsam, dabei nicht nach ernsten Grundsätzen zu
Verfahren, weiche weitaus den größeren Theil des Kanons gefährden mußten.
Man fühlte wohl das Bedenkliche der Wundercrzählungcn. an welchen sowohl
der Geschmack als die Naturkenntniß der Gegenwart Anstoß nahm. Aber anstatt
sie ein für alle Mal in das Gebiet der Sage zu verweisen, dentelee man an dem
Wunderbegriff in einer Weise, daß wieder die Wissenschaft noch die Kirchenlehre
befriedigt sein konnte, oder man beseitigte hier ein Wunder. schwächte ein
anderes ab. erklärte ein drittes auf natürliche Weise- nirgends verfuhr man
nach einem strengen Gesetz. Man war sich wohl der Wiedersprüche in den
Berichten der Evangelien bewußt, aber man suchte sie auf die künstlichste Weise
zu verschleiern, ja das Widersprechendste zusammenzureimen; höchstens für Neben¬
dinge wurden schriftstellerische Ungenauigkeiten angenommen. Man sah wohl,
daß der Christus der drei ersten Evangelien ein anderer ist als der johanneische. aber
anstatt die Unterschiede mit kritischer Schärfe zu Verfolgen und ihre Gründe zu
erforschen, nahm man keinen Anstand die Züge beider Bilder ineinanderzuschieben,
oder man wählte sich je nach Neigung oder aus dogmatischen Interesse einen
Lieblingsschriftsteller, dessen Darstellung dann die maßgebende war und mit
welcher sich wohl oder übel die anderen vereinigen lassen mußten.

Diesem grundsatzloser Eklekticismus, diesen kleinlichen Ausflüchten einer
Principscbeuen Halbwisscnschaftlichkcit machte Strauß ein Ende, und wenn nach
'hin gleichwohl die Sisyphusarbeit der Harmonistik. d. h. der Versuche, die wider¬
sprechenden evangelischen Berichte zu einer einheitlichen Erzählung zusammen¬
zumengen, nicht aufhörten, so haben ihre Erzeugnisse doch fort und fort an dem
Straußfeder Werk ihre bündigste Kritik. Denn obgleich vieles an demselben
durch spätere Arbeiten weitergeführt oder überholt ist. so behält es doch seine
unerbittliche Beweiskraft gegenüber allen denjenigen Auslcgungsversuchen. welch
auf dem kirchlichen Boden stehend die Voraussetzung theilen, daß uns in den
vier evangelischen Berichten wirkliche Geschichte überliefert sei. Es ist hier ein
Wort am Platze, das Strauß von Reimarus gebraucht: ..sein Nein bleibt Nein,
aber sein Ja hat einem besseren Platz machen müssen." Das heißt, seine Be¬
streitung der kirchlichen Ausfassung der vier Evangelien und aller Versuche,
dieselbe für das moderne Bewußtsein aufzustutzen, bleibt unwiderlegt, überwun-e


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/51>, abgerufen am 23.07.2024.