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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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an der Erhöhung des Petrus vorbei, läßt aber andrerseits auch die paulinischen
Gleichnisse des Lucas vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter
u. s. w. aus. Das Evangelium erhielt so einen eklektischen Charakter; die
Gegensätze sollten nicht vermittelt, sondern ignorirt, in Vergessenheit gebracht
werden.

Unselbständig ist also Marcus in Betreff des Stoffs seiner Erzählung,
farblos sein dogmatischer Charakter; um so größeres Gewicht fällt nun bei ihm
auf die Form der Darstellung. Eben indem er in der Kürze alles Wesentliche
erzählen will, sieht er sich genöthigt die Wirksamkeit Zehn mehr unter allgemeine
Gesichtspunkte zu bringen, zu combiniren, Wiederholungen zu vermeiden, alles
was den Gang der Erzählung hemmen oder unterbrechen könnte, auszuscheiden.
Dieser Grund mag zum Beispiel auch dazu mitgewirkt haben, daß die ganze
Vorgeschichte und die Bergrede wegfiel. Darum erzählt er von jeder Gattung
von Wundergeschichten nur eure charakteristische Probe, er giebt und wenigen
Beispielen, die er zusammendrängt, ein Bild von der parabolischen Lehrweise
Jesu, ohne später wieder darauf zurückzukommen. Von jeder Seite der öffent¬
lichen Thätigkeit Jesu will er ein klares und anschauliches Bild geben, wozu
er aus dem reichen ihm vorliegenden Stoff eine Auswahl trifft, und so gelingt
es ihm, das Leben Jesu von der Taufe bis zur Himmelfahrt in weit einheit¬
licherer, geschlossenerer Form zu erzählen als dies in den andern Evangelien
der Fall ist.

Aber auch im Einzelnen zeigt sich nun die bewußte Kunst dieses Biographen
in der Sorgfalt, mit welcher die Vorgänge ausgemalt sind, ihnen Farbe und
Leben gegeben ist. Er erweitert den Text gern durch unwesentliche Züge, die
er nur aus seiner Reflexion genommen hat. Dabei passirt es ihm mitunter,
daß er Wunderheilungcn, die er gleichfalls besouders anschaulich machen will,
vielmehr verwirrt und den Begriff des Wunders durch Einschievung eines
successiven, also rationalisirendcn Elements geradezu aufhebt. Aehnlich ist es
bei der Erzählung vom Feigenbaum, den Jesus verflucht, weil er nur Blätter
findet. Marcus will hier motiviren, warum Jesus keine Feigen fand, und ver¬
fehlt nicht hinzuzusetzen, es sei keine Zeit dafür gewesen, womit allerdings
höchst natürlich erklärt >se, warum keine Feigen da waren, aber um so weniger,
wie Jesus dazu kam, Feigen zu suchen, wo keine zu erwarten waren. Kein
Evangelist ist so sorgfältig bemüht wie er, überall genaue Angaben von Per¬
sonen, von Zeit und Ort, von Zahlen zu machen, die durchaus keine sach¬
liche Bedeutung haben; oder er giebt seinen Erzählungen malerische, oft
gesuchte Ausschmückungen; oder er liebt es gesteigerte Gemüthsbewegungen an¬
zubringen, bei denen man vergebens nach dem Anlaß fragt. So hat das dritte
Evangelium vermöge seines combinirenden Verfahrens und seiner Darftellungs-
tunst wohl ein individuelles Gepräge, aber nichteinen selbständigen historischen


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an der Erhöhung des Petrus vorbei, läßt aber andrerseits auch die paulinischen
Gleichnisse des Lucas vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter
u. s. w. aus. Das Evangelium erhielt so einen eklektischen Charakter; die
Gegensätze sollten nicht vermittelt, sondern ignorirt, in Vergessenheit gebracht
werden.

Unselbständig ist also Marcus in Betreff des Stoffs seiner Erzählung,
farblos sein dogmatischer Charakter; um so größeres Gewicht fällt nun bei ihm
auf die Form der Darstellung. Eben indem er in der Kürze alles Wesentliche
erzählen will, sieht er sich genöthigt die Wirksamkeit Zehn mehr unter allgemeine
Gesichtspunkte zu bringen, zu combiniren, Wiederholungen zu vermeiden, alles
was den Gang der Erzählung hemmen oder unterbrechen könnte, auszuscheiden.
Dieser Grund mag zum Beispiel auch dazu mitgewirkt haben, daß die ganze
Vorgeschichte und die Bergrede wegfiel. Darum erzählt er von jeder Gattung
von Wundergeschichten nur eure charakteristische Probe, er giebt und wenigen
Beispielen, die er zusammendrängt, ein Bild von der parabolischen Lehrweise
Jesu, ohne später wieder darauf zurückzukommen. Von jeder Seite der öffent¬
lichen Thätigkeit Jesu will er ein klares und anschauliches Bild geben, wozu
er aus dem reichen ihm vorliegenden Stoff eine Auswahl trifft, und so gelingt
es ihm, das Leben Jesu von der Taufe bis zur Himmelfahrt in weit einheit¬
licherer, geschlossenerer Form zu erzählen als dies in den andern Evangelien
der Fall ist.

Aber auch im Einzelnen zeigt sich nun die bewußte Kunst dieses Biographen
in der Sorgfalt, mit welcher die Vorgänge ausgemalt sind, ihnen Farbe und
Leben gegeben ist. Er erweitert den Text gern durch unwesentliche Züge, die
er nur aus seiner Reflexion genommen hat. Dabei passirt es ihm mitunter,
daß er Wunderheilungcn, die er gleichfalls besouders anschaulich machen will,
vielmehr verwirrt und den Begriff des Wunders durch Einschievung eines
successiven, also rationalisirendcn Elements geradezu aufhebt. Aehnlich ist es
bei der Erzählung vom Feigenbaum, den Jesus verflucht, weil er nur Blätter
findet. Marcus will hier motiviren, warum Jesus keine Feigen fand, und ver¬
fehlt nicht hinzuzusetzen, es sei keine Zeit dafür gewesen, womit allerdings
höchst natürlich erklärt >se, warum keine Feigen da waren, aber um so weniger,
wie Jesus dazu kam, Feigen zu suchen, wo keine zu erwarten waren. Kein
Evangelist ist so sorgfältig bemüht wie er, überall genaue Angaben von Per¬
sonen, von Zeit und Ort, von Zahlen zu machen, die durchaus keine sach¬
liche Bedeutung haben; oder er giebt seinen Erzählungen malerische, oft
gesuchte Ausschmückungen; oder er liebt es gesteigerte Gemüthsbewegungen an¬
zubringen, bei denen man vergebens nach dem Anlaß fragt. So hat das dritte
Evangelium vermöge seines combinirenden Verfahrens und seiner Darftellungs-
tunst wohl ein individuelles Gepräge, aber nichteinen selbständigen historischen


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[0435] an der Erhöhung des Petrus vorbei, läßt aber andrerseits auch die paulinischen Gleichnisse des Lucas vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter u. s. w. aus. Das Evangelium erhielt so einen eklektischen Charakter; die Gegensätze sollten nicht vermittelt, sondern ignorirt, in Vergessenheit gebracht werden. Unselbständig ist also Marcus in Betreff des Stoffs seiner Erzählung, farblos sein dogmatischer Charakter; um so größeres Gewicht fällt nun bei ihm auf die Form der Darstellung. Eben indem er in der Kürze alles Wesentliche erzählen will, sieht er sich genöthigt die Wirksamkeit Zehn mehr unter allgemeine Gesichtspunkte zu bringen, zu combiniren, Wiederholungen zu vermeiden, alles was den Gang der Erzählung hemmen oder unterbrechen könnte, auszuscheiden. Dieser Grund mag zum Beispiel auch dazu mitgewirkt haben, daß die ganze Vorgeschichte und die Bergrede wegfiel. Darum erzählt er von jeder Gattung von Wundergeschichten nur eure charakteristische Probe, er giebt und wenigen Beispielen, die er zusammendrängt, ein Bild von der parabolischen Lehrweise Jesu, ohne später wieder darauf zurückzukommen. Von jeder Seite der öffent¬ lichen Thätigkeit Jesu will er ein klares und anschauliches Bild geben, wozu er aus dem reichen ihm vorliegenden Stoff eine Auswahl trifft, und so gelingt es ihm, das Leben Jesu von der Taufe bis zur Himmelfahrt in weit einheit¬ licherer, geschlossenerer Form zu erzählen als dies in den andern Evangelien der Fall ist. Aber auch im Einzelnen zeigt sich nun die bewußte Kunst dieses Biographen in der Sorgfalt, mit welcher die Vorgänge ausgemalt sind, ihnen Farbe und Leben gegeben ist. Er erweitert den Text gern durch unwesentliche Züge, die er nur aus seiner Reflexion genommen hat. Dabei passirt es ihm mitunter, daß er Wunderheilungcn, die er gleichfalls besouders anschaulich machen will, vielmehr verwirrt und den Begriff des Wunders durch Einschievung eines successiven, also rationalisirendcn Elements geradezu aufhebt. Aehnlich ist es bei der Erzählung vom Feigenbaum, den Jesus verflucht, weil er nur Blätter findet. Marcus will hier motiviren, warum Jesus keine Feigen fand, und ver¬ fehlt nicht hinzuzusetzen, es sei keine Zeit dafür gewesen, womit allerdings höchst natürlich erklärt >se, warum keine Feigen da waren, aber um so weniger, wie Jesus dazu kam, Feigen zu suchen, wo keine zu erwarten waren. Kein Evangelist ist so sorgfältig bemüht wie er, überall genaue Angaben von Per¬ sonen, von Zeit und Ort, von Zahlen zu machen, die durchaus keine sach¬ liche Bedeutung haben; oder er giebt seinen Erzählungen malerische, oft gesuchte Ausschmückungen; oder er liebt es gesteigerte Gemüthsbewegungen an¬ zubringen, bei denen man vergebens nach dem Anlaß fragt. So hat das dritte Evangelium vermöge seines combinirenden Verfahrens und seiner Darftellungs- tunst wohl ein individuelles Gepräge, aber nichteinen selbständigen historischen 54*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/435>, abgerufen am 23.07.2024.