Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ist dies nun im Allgemeinen der Charakter unsres Evangeliums, so fehlt
doch viel, daß es durchaus als einheitliche Composition erschiene, worin dieser
Gesichtspunkt durchgeführt wäre. Von seiner Grundlage haben wir vielmehr
die jetzige Form zu unterscheiden. Jene bildet allerdings die Hauptmasse auch
des jetzigen Evangeliums und sie eben hat jenes specifisch judenchristliche Ge¬
präge. Aber daneben haben sich nun einzelne Aussprüche oder auch Erzählungs¬
stücke eingedrängt, welche mit jener Grundfarbe wenig stimmen. Offenbar ist
das Evangelium durch Bearbeitungen hindurchgegangen, in welchen sich die
Veränderungen widerspiegeln, die mit dem Christenthum infolge der Ausdehnung
seines Horizontes vorgegangen sind. Wie sonst könnte man es erklären, daß
jüdisch-particularistische und universalistische Züge neben einander sich befinden,
daß das eine Mal die Thätigkeit der Apostel für immer auf Israel beschränkt,
das andere Mal dem Unglauben der Juden mit der Berufung der Heidenwelt ge¬
droht wird, daß die Bergrede verbietet, das Heilige den Hunden und die Per¬
len den Säuen zu geben, während in der Schlußermahnung die Jünger aus¬
drücklich angewiesen werden, alle Völker zu taufen, daß das eine Mal die Unan¬
tastbarkeit auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz behauptet, das andere Mal
die Gottes- und Menschenliebe für den Kern und Inbegriff des Gesetzes erklärt
wild? Offenbar war das Evangelium ursprünglich für Heidenchristen bestimmt
und vertrat einen streng judcnchristlichen Standpunkt. Je größere Erfolge
indessen die Heidenmission machte, und je mehr dagegen die Masse des Juden-
thums sich gegen das messianische Heil verstockte, um so mehr lag einer späteren
Zeit daran, das Evangelium mit den neu gewonnenen Erfahrungen, mit einer
Vorurtheilsfreier gewordenen Anschauung in Uebereinstimmung zu setzen. Nur
ein solches Evangelium, das den veränderten Zeitumständen einige Rechnung
trug, konnte später in der katholischen Kirche im Gebrauch bleiben, während
Evangelien, die ihren streng judenchristlichen Charakter behielten, wie z. B. das
demselben Kreis angehörige Hebräerevangelium, später nur noch bei Sekten
von dieser Richtung sich erhielten und endlich ganz verloren gingen.

Indessen mit solchen nachträglichen verbessernden Strichen, welche nur
obenhin gezogen wurden und die Grundstimmung einer Schrift unverändert
ließen, war dem Bedürfniß einer späteren Zeit nach einem universalistischen
Evangelium nicht Genüge gethan. In derselben Richtung, in welcher eine
spätere Zeit an das Matthäusevangelium Hand anlegte, finden wir einen weiteren,
kühnerem Fortschritt der Evangelienbildung in der nach Lucas genannten Schrift.
Der Verfasser dieses neuen Evangeliums hat unzweifelhaft den Matthäus vor
Augen gehabt, in vielen Fällen ist wesentliche, zuweilen' wörtliche Ueberein¬
stimmung vorhanden. Allein oft ist auch Anordnung oder Ausdruck, ja Sinn
einer Erzählung abgeändert. Größere Abweichungen finden sich namentlich in
der Kindheitsgeschickte, wo Lucas manches Neue hat, dann wieder in der Leidens-


Ist dies nun im Allgemeinen der Charakter unsres Evangeliums, so fehlt
doch viel, daß es durchaus als einheitliche Composition erschiene, worin dieser
Gesichtspunkt durchgeführt wäre. Von seiner Grundlage haben wir vielmehr
die jetzige Form zu unterscheiden. Jene bildet allerdings die Hauptmasse auch
des jetzigen Evangeliums und sie eben hat jenes specifisch judenchristliche Ge¬
präge. Aber daneben haben sich nun einzelne Aussprüche oder auch Erzählungs¬
stücke eingedrängt, welche mit jener Grundfarbe wenig stimmen. Offenbar ist
das Evangelium durch Bearbeitungen hindurchgegangen, in welchen sich die
Veränderungen widerspiegeln, die mit dem Christenthum infolge der Ausdehnung
seines Horizontes vorgegangen sind. Wie sonst könnte man es erklären, daß
jüdisch-particularistische und universalistische Züge neben einander sich befinden,
daß das eine Mal die Thätigkeit der Apostel für immer auf Israel beschränkt,
das andere Mal dem Unglauben der Juden mit der Berufung der Heidenwelt ge¬
droht wird, daß die Bergrede verbietet, das Heilige den Hunden und die Per¬
len den Säuen zu geben, während in der Schlußermahnung die Jünger aus¬
drücklich angewiesen werden, alle Völker zu taufen, daß das eine Mal die Unan¬
tastbarkeit auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz behauptet, das andere Mal
die Gottes- und Menschenliebe für den Kern und Inbegriff des Gesetzes erklärt
wild? Offenbar war das Evangelium ursprünglich für Heidenchristen bestimmt
und vertrat einen streng judcnchristlichen Standpunkt. Je größere Erfolge
indessen die Heidenmission machte, und je mehr dagegen die Masse des Juden-
thums sich gegen das messianische Heil verstockte, um so mehr lag einer späteren
Zeit daran, das Evangelium mit den neu gewonnenen Erfahrungen, mit einer
Vorurtheilsfreier gewordenen Anschauung in Uebereinstimmung zu setzen. Nur
ein solches Evangelium, das den veränderten Zeitumständen einige Rechnung
trug, konnte später in der katholischen Kirche im Gebrauch bleiben, während
Evangelien, die ihren streng judenchristlichen Charakter behielten, wie z. B. das
demselben Kreis angehörige Hebräerevangelium, später nur noch bei Sekten
von dieser Richtung sich erhielten und endlich ganz verloren gingen.

Indessen mit solchen nachträglichen verbessernden Strichen, welche nur
obenhin gezogen wurden und die Grundstimmung einer Schrift unverändert
ließen, war dem Bedürfniß einer späteren Zeit nach einem universalistischen
Evangelium nicht Genüge gethan. In derselben Richtung, in welcher eine
spätere Zeit an das Matthäusevangelium Hand anlegte, finden wir einen weiteren,
kühnerem Fortschritt der Evangelienbildung in der nach Lucas genannten Schrift.
Der Verfasser dieses neuen Evangeliums hat unzweifelhaft den Matthäus vor
Augen gehabt, in vielen Fällen ist wesentliche, zuweilen' wörtliche Ueberein¬
stimmung vorhanden. Allein oft ist auch Anordnung oder Ausdruck, ja Sinn
einer Erzählung abgeändert. Größere Abweichungen finden sich namentlich in
der Kindheitsgeschickte, wo Lucas manches Neue hat, dann wieder in der Leidens-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0430" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188991"/>
          <p xml:id="ID_1473"> Ist dies nun im Allgemeinen der Charakter unsres Evangeliums, so fehlt<lb/>
doch viel, daß es durchaus als einheitliche Composition erschiene, worin dieser<lb/>
Gesichtspunkt durchgeführt wäre. Von seiner Grundlage haben wir vielmehr<lb/>
die jetzige Form zu unterscheiden. Jene bildet allerdings die Hauptmasse auch<lb/>
des jetzigen Evangeliums und sie eben hat jenes specifisch judenchristliche Ge¬<lb/>
präge. Aber daneben haben sich nun einzelne Aussprüche oder auch Erzählungs¬<lb/>
stücke eingedrängt, welche mit jener Grundfarbe wenig stimmen. Offenbar ist<lb/>
das Evangelium durch Bearbeitungen hindurchgegangen, in welchen sich die<lb/>
Veränderungen widerspiegeln, die mit dem Christenthum infolge der Ausdehnung<lb/>
seines Horizontes vorgegangen sind. Wie sonst könnte man es erklären, daß<lb/>
jüdisch-particularistische und universalistische Züge neben einander sich befinden,<lb/>
daß das eine Mal die Thätigkeit der Apostel für immer auf Israel beschränkt,<lb/>
das andere Mal dem Unglauben der Juden mit der Berufung der Heidenwelt ge¬<lb/>
droht wird, daß die Bergrede verbietet, das Heilige den Hunden und die Per¬<lb/>
len den Säuen zu geben, während in der Schlußermahnung die Jünger aus¬<lb/>
drücklich angewiesen werden, alle Völker zu taufen, daß das eine Mal die Unan¬<lb/>
tastbarkeit auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz behauptet, das andere Mal<lb/>
die Gottes- und Menschenliebe für den Kern und Inbegriff des Gesetzes erklärt<lb/>
wild? Offenbar war das Evangelium ursprünglich für Heidenchristen bestimmt<lb/>
und vertrat einen streng judcnchristlichen Standpunkt. Je größere Erfolge<lb/>
indessen die Heidenmission machte, und je mehr dagegen die Masse des Juden-<lb/>
thums sich gegen das messianische Heil verstockte, um so mehr lag einer späteren<lb/>
Zeit daran, das Evangelium mit den neu gewonnenen Erfahrungen, mit einer<lb/>
Vorurtheilsfreier gewordenen Anschauung in Uebereinstimmung zu setzen. Nur<lb/>
ein solches Evangelium, das den veränderten Zeitumständen einige Rechnung<lb/>
trug, konnte später in der katholischen Kirche im Gebrauch bleiben, während<lb/>
Evangelien, die ihren streng judenchristlichen Charakter behielten, wie z. B. das<lb/>
demselben Kreis angehörige Hebräerevangelium, später nur noch bei Sekten<lb/>
von dieser Richtung sich erhielten und endlich ganz verloren gingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1474" next="#ID_1475"> Indessen mit solchen nachträglichen verbessernden Strichen, welche nur<lb/>
obenhin gezogen wurden und die Grundstimmung einer Schrift unverändert<lb/>
ließen, war dem Bedürfniß einer späteren Zeit nach einem universalistischen<lb/>
Evangelium nicht Genüge gethan. In derselben Richtung, in welcher eine<lb/>
spätere Zeit an das Matthäusevangelium Hand anlegte, finden wir einen weiteren,<lb/>
kühnerem Fortschritt der Evangelienbildung in der nach Lucas genannten Schrift.<lb/>
Der Verfasser dieses neuen Evangeliums hat unzweifelhaft den Matthäus vor<lb/>
Augen gehabt, in vielen Fällen ist wesentliche, zuweilen' wörtliche Ueberein¬<lb/>
stimmung vorhanden. Allein oft ist auch Anordnung oder Ausdruck, ja Sinn<lb/>
einer Erzählung abgeändert. Größere Abweichungen finden sich namentlich in<lb/>
der Kindheitsgeschickte, wo Lucas manches Neue hat, dann wieder in der Leidens-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0430] Ist dies nun im Allgemeinen der Charakter unsres Evangeliums, so fehlt doch viel, daß es durchaus als einheitliche Composition erschiene, worin dieser Gesichtspunkt durchgeführt wäre. Von seiner Grundlage haben wir vielmehr die jetzige Form zu unterscheiden. Jene bildet allerdings die Hauptmasse auch des jetzigen Evangeliums und sie eben hat jenes specifisch judenchristliche Ge¬ präge. Aber daneben haben sich nun einzelne Aussprüche oder auch Erzählungs¬ stücke eingedrängt, welche mit jener Grundfarbe wenig stimmen. Offenbar ist das Evangelium durch Bearbeitungen hindurchgegangen, in welchen sich die Veränderungen widerspiegeln, die mit dem Christenthum infolge der Ausdehnung seines Horizontes vorgegangen sind. Wie sonst könnte man es erklären, daß jüdisch-particularistische und universalistische Züge neben einander sich befinden, daß das eine Mal die Thätigkeit der Apostel für immer auf Israel beschränkt, das andere Mal dem Unglauben der Juden mit der Berufung der Heidenwelt ge¬ droht wird, daß die Bergrede verbietet, das Heilige den Hunden und die Per¬ len den Säuen zu geben, während in der Schlußermahnung die Jünger aus¬ drücklich angewiesen werden, alle Völker zu taufen, daß das eine Mal die Unan¬ tastbarkeit auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz behauptet, das andere Mal die Gottes- und Menschenliebe für den Kern und Inbegriff des Gesetzes erklärt wild? Offenbar war das Evangelium ursprünglich für Heidenchristen bestimmt und vertrat einen streng judcnchristlichen Standpunkt. Je größere Erfolge indessen die Heidenmission machte, und je mehr dagegen die Masse des Juden- thums sich gegen das messianische Heil verstockte, um so mehr lag einer späteren Zeit daran, das Evangelium mit den neu gewonnenen Erfahrungen, mit einer Vorurtheilsfreier gewordenen Anschauung in Uebereinstimmung zu setzen. Nur ein solches Evangelium, das den veränderten Zeitumständen einige Rechnung trug, konnte später in der katholischen Kirche im Gebrauch bleiben, während Evangelien, die ihren streng judenchristlichen Charakter behielten, wie z. B. das demselben Kreis angehörige Hebräerevangelium, später nur noch bei Sekten von dieser Richtung sich erhielten und endlich ganz verloren gingen. Indessen mit solchen nachträglichen verbessernden Strichen, welche nur obenhin gezogen wurden und die Grundstimmung einer Schrift unverändert ließen, war dem Bedürfniß einer späteren Zeit nach einem universalistischen Evangelium nicht Genüge gethan. In derselben Richtung, in welcher eine spätere Zeit an das Matthäusevangelium Hand anlegte, finden wir einen weiteren, kühnerem Fortschritt der Evangelienbildung in der nach Lucas genannten Schrift. Der Verfasser dieses neuen Evangeliums hat unzweifelhaft den Matthäus vor Augen gehabt, in vielen Fällen ist wesentliche, zuweilen' wörtliche Ueberein¬ stimmung vorhanden. Allein oft ist auch Anordnung oder Ausdruck, ja Sinn einer Erzählung abgeändert. Größere Abweichungen finden sich namentlich in der Kindheitsgeschickte, wo Lucas manches Neue hat, dann wieder in der Leidens-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/430
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/430>, abgerufen am 23.07.2024.