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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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so folgt daraus noch nicht, daß nicht noch bis um die Mitte des folgenden
Jahrhunderts der Text im Einzelnen Veränderungen und Einschaltungen erlitt.
Diese Annahme entspricht durchaus der Art und Weise, wie wir uns überhaupt
die allmälige Fixirung der Evangelien zu denken haben; der Zustand, in wel¬
chem wir sie noch bei Justin dem Märtyrer finden, weist deutlich darauf hin,
daß solche Schwankungen im Text damals noch nicht überwunden waren, und
es fehlt in den Evangelien selbst nicht an mannigfachen Spuren, daß noch sehr
späte Hände sich mit kleinen Veränderungen und Einschiebseln abgegeben haben.
Genau betrachtet sind also die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf diesen
Theil der kritischen Frage sehr untergeordneter Art, und insbesondere von ge¬
ringem Einfluß auf das historische Ergebniß.

Es ist eine der ältesten Ueberlieferungen der christlichen Kirche, daß der
Apostel Matthäus eine Sammlung von Neben des Herrn in hebräischer Sprache
verfaßt habe. Diese Schrift, welche in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhun¬
derts von dem Bischof Papias erwähnt wird, kann nicht unser jetziger Matthäus
sein. Denn der letztere ist nicht eine bloße Sammlung von Reden, und dann
ist derselbe aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich in griechischer Sprache ge¬
schrieben und keineswegs die bloße Uebersetzung einer hebräischen Urschrift.
Wohl aber giebt uns jene Notiz einen Fingerzeig für die Art und Weise, wie
unser Matthäus ohne Zweifel entstanden ist. Jene hebräische Redensammlung
des Apostels mag nämlich der Grundstock unsrer Evangelienliteratur überhaupt
sein, der dann aber frühzeitig sich in einer doppelten Richtung weiter ent¬
wickelte: einmal dadurch, daß die Reden von Verschiedenen in verschiedener
Weise ins Griechische übertragen wurden (auch darüber haben wir eine Notiz
von Papias). sodann dadurch, daß sie durch erzählende Stücke ergänzt wurden,
welche wie die Reden selbst, zunächst in der palästinischen Tradition mündlich
sich erhalten hatten. Auf diesen ältesten Proceß der Evangelienbildung weist
unser Matthäus wenigstens seiner Grundlage nach unverkennbar hin. wenn wir
auch nicht mehr mit Sicherheit ausmachen können, welches bestimmte Verhältniß
er zu jener Redensammlung und zu andern demselben Kreis angehörigen, später
Verloren gegangenen Evangelien einnimmt. Gerade im Matthäusevangelium
bilden die Reden Jesu einen besonders hervorragenden Bestandtheil, und deut¬
lich erkennen wir in ihnen noch-die alterthümlichsten und ursprünglichsten Stücke,
die uns überhaupt in den Evangelien erhalten find. Wenn auch zu größeren
Redegruppen zusammengestellt, die schwerlich geschichtlich sind, wenn auch nicht
unvermischt durch spätere Zuthaten, haben wir hier doch die Aussprüche Jesu
in verhältnißmäßig reinerer Form als in den andern Evangelien. Die ein¬
fachen schlagenden Sprüche der Bergrcdc. die Seligsprechungen, die Gleichnisse
führen uns 'in den Mittelpunkt der Grundanschauung und Grundstimmung
hinein, aus welcher das Ehristenthum 'hervorgegangen ist. Dieses Aussprechen


so folgt daraus noch nicht, daß nicht noch bis um die Mitte des folgenden
Jahrhunderts der Text im Einzelnen Veränderungen und Einschaltungen erlitt.
Diese Annahme entspricht durchaus der Art und Weise, wie wir uns überhaupt
die allmälige Fixirung der Evangelien zu denken haben; der Zustand, in wel¬
chem wir sie noch bei Justin dem Märtyrer finden, weist deutlich darauf hin,
daß solche Schwankungen im Text damals noch nicht überwunden waren, und
es fehlt in den Evangelien selbst nicht an mannigfachen Spuren, daß noch sehr
späte Hände sich mit kleinen Veränderungen und Einschiebseln abgegeben haben.
Genau betrachtet sind also die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf diesen
Theil der kritischen Frage sehr untergeordneter Art, und insbesondere von ge¬
ringem Einfluß auf das historische Ergebniß.

Es ist eine der ältesten Ueberlieferungen der christlichen Kirche, daß der
Apostel Matthäus eine Sammlung von Neben des Herrn in hebräischer Sprache
verfaßt habe. Diese Schrift, welche in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhun¬
derts von dem Bischof Papias erwähnt wird, kann nicht unser jetziger Matthäus
sein. Denn der letztere ist nicht eine bloße Sammlung von Reden, und dann
ist derselbe aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich in griechischer Sprache ge¬
schrieben und keineswegs die bloße Uebersetzung einer hebräischen Urschrift.
Wohl aber giebt uns jene Notiz einen Fingerzeig für die Art und Weise, wie
unser Matthäus ohne Zweifel entstanden ist. Jene hebräische Redensammlung
des Apostels mag nämlich der Grundstock unsrer Evangelienliteratur überhaupt
sein, der dann aber frühzeitig sich in einer doppelten Richtung weiter ent¬
wickelte: einmal dadurch, daß die Reden von Verschiedenen in verschiedener
Weise ins Griechische übertragen wurden (auch darüber haben wir eine Notiz
von Papias). sodann dadurch, daß sie durch erzählende Stücke ergänzt wurden,
welche wie die Reden selbst, zunächst in der palästinischen Tradition mündlich
sich erhalten hatten. Auf diesen ältesten Proceß der Evangelienbildung weist
unser Matthäus wenigstens seiner Grundlage nach unverkennbar hin. wenn wir
auch nicht mehr mit Sicherheit ausmachen können, welches bestimmte Verhältniß
er zu jener Redensammlung und zu andern demselben Kreis angehörigen, später
Verloren gegangenen Evangelien einnimmt. Gerade im Matthäusevangelium
bilden die Reden Jesu einen besonders hervorragenden Bestandtheil, und deut¬
lich erkennen wir in ihnen noch-die alterthümlichsten und ursprünglichsten Stücke,
die uns überhaupt in den Evangelien erhalten find. Wenn auch zu größeren
Redegruppen zusammengestellt, die schwerlich geschichtlich sind, wenn auch nicht
unvermischt durch spätere Zuthaten, haben wir hier doch die Aussprüche Jesu
in verhältnißmäßig reinerer Form als in den andern Evangelien. Die ein¬
fachen schlagenden Sprüche der Bergrcdc. die Seligsprechungen, die Gleichnisse
führen uns 'in den Mittelpunkt der Grundanschauung und Grundstimmung
hinein, aus welcher das Ehristenthum 'hervorgegangen ist. Dieses Aussprechen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/428>, abgerufen am 23.07.2024.