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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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daß Gödeke im "Grundriß" den Titel ohne weitere Bemerkung aus Gottsched
anführt, ist um so weniger zu rechnen, als derselbe einige Seiten vorher
(S. 480) ausdrücklich behauptet: Uebersetzungen aus dem Englischen begegnen
(in der deutschen dramatischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts) nicht."
Die "Kunst über alle Künste" ist aber schon deshalb von Bedeutung für die
Literaturgeschichte, weil das Stück abgesehen von dem Peter Squenz des Andreas
Gryphius die erste gedruckte deutsche Bearbeitung eines Lustspiels des großen
britischen Dramendichters ist, sodann aber, weil aus dem Nachwort des Be¬
arbeiters hervorgeht, daß es nach einer im siebzehnten Jahrhundert auf den
deutschen Bühnen in Gebrauch gewesenen, aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich
wörtlichen Übersetzung des shal'espcareschen Stücks geschrieben und somit ein
neuer Beweis ist, daß der Einfluß der englischen Komödianten damals noch
fortdauerte, und endlich, weil es keineswegs eine Verballhornisirung oder Herab-
ziehung des Originals ins Gemeine und rein Possenhafte ist.

Das Bühnenmanuscript hatte mancherlei englische Redewendungen sowie
die im englischen Original vorkommenden italienischen Personennamen (Baptista,
Petruchio, Katharina, Bianca u. a.) beibehalten und ebenso andere Beziehungen
auf italienische Verhältnisse. Der Bearbeiter, seiner Sprache nach aus dem
westlichen Mitteldeutschland, verwandelt diese Namen in deutsche (Baptista heißt
bei ihm Herr Theobald von Grifflingcn, Katharina nennt er Jungfer Katharina
Hurleputz, Bianca Jungfer Sabina Süßmäulchc", Petruchio wird zu einem
Herrn Hartmann Dollfcder, Erbsaß zum Wirbelwind, der Clown Grumio zu
einem Ludolf Wurmbrand u. s. w.) und legt überhaupt dem Ganzen deutsche
Zustände zu Grunde, hält sich aber im Uebrigen fast durchgehends an den Sinn
und Gang der ihm vorliegenden Uebersetzung (das Original kennt er höchst
wahrscheinlich nicht) und erlaubt sich nur gelegentlich Wcglassungcn. Versetzungen
und Abweichungen, häufiger Zusätze; auch läßt er alle Personen in unge¬
bundener Rede sprechen. Er muß ein Mann von Geist und classischer Bil¬
dung gewesen sein, und wie man auch über den Werth des von ihm Hinzu¬
gethanen urtheilen mag, jedenfalls ist ihm gelungen, dem Stücke einen vollkommen
deutschen Charakter und ein solches Gepräge der Originalität zu verleihen, daß
ein Leser, welcher das englische Lustspiel nicht kennt, schwerlich auf die Ver¬
muthung kommen kann, die Bearbeitung eines ausländischen Werkes vor sich
zu haben.

Daß die "Kunst über alle Künste" sehr anstößige Stellen enthält, wird
denen, welche den Ton des siebzehnten Jahrhunderts kennen, ebensowenig auf¬
fallen, wie uns dergleichen in Shakespeare selbst, in Bocaccio und in Ansto-
phanes auffällt. Der Dichter ist an seiner Zeit zu messe", und man hatte
damals eben andere Begriffe von Wohlanständigkeit als heutzutage, und treffen
wir auf den einen und den andern durch Rohheit der Empfindung verletzenden


daß Gödeke im „Grundriß" den Titel ohne weitere Bemerkung aus Gottsched
anführt, ist um so weniger zu rechnen, als derselbe einige Seiten vorher
(S. 480) ausdrücklich behauptet: Uebersetzungen aus dem Englischen begegnen
(in der deutschen dramatischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts) nicht."
Die „Kunst über alle Künste" ist aber schon deshalb von Bedeutung für die
Literaturgeschichte, weil das Stück abgesehen von dem Peter Squenz des Andreas
Gryphius die erste gedruckte deutsche Bearbeitung eines Lustspiels des großen
britischen Dramendichters ist, sodann aber, weil aus dem Nachwort des Be¬
arbeiters hervorgeht, daß es nach einer im siebzehnten Jahrhundert auf den
deutschen Bühnen in Gebrauch gewesenen, aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich
wörtlichen Übersetzung des shal'espcareschen Stücks geschrieben und somit ein
neuer Beweis ist, daß der Einfluß der englischen Komödianten damals noch
fortdauerte, und endlich, weil es keineswegs eine Verballhornisirung oder Herab-
ziehung des Originals ins Gemeine und rein Possenhafte ist.

Das Bühnenmanuscript hatte mancherlei englische Redewendungen sowie
die im englischen Original vorkommenden italienischen Personennamen (Baptista,
Petruchio, Katharina, Bianca u. a.) beibehalten und ebenso andere Beziehungen
auf italienische Verhältnisse. Der Bearbeiter, seiner Sprache nach aus dem
westlichen Mitteldeutschland, verwandelt diese Namen in deutsche (Baptista heißt
bei ihm Herr Theobald von Grifflingcn, Katharina nennt er Jungfer Katharina
Hurleputz, Bianca Jungfer Sabina Süßmäulchc», Petruchio wird zu einem
Herrn Hartmann Dollfcder, Erbsaß zum Wirbelwind, der Clown Grumio zu
einem Ludolf Wurmbrand u. s. w.) und legt überhaupt dem Ganzen deutsche
Zustände zu Grunde, hält sich aber im Uebrigen fast durchgehends an den Sinn
und Gang der ihm vorliegenden Uebersetzung (das Original kennt er höchst
wahrscheinlich nicht) und erlaubt sich nur gelegentlich Wcglassungcn. Versetzungen
und Abweichungen, häufiger Zusätze; auch läßt er alle Personen in unge¬
bundener Rede sprechen. Er muß ein Mann von Geist und classischer Bil¬
dung gewesen sein, und wie man auch über den Werth des von ihm Hinzu¬
gethanen urtheilen mag, jedenfalls ist ihm gelungen, dem Stücke einen vollkommen
deutschen Charakter und ein solches Gepräge der Originalität zu verleihen, daß
ein Leser, welcher das englische Lustspiel nicht kennt, schwerlich auf die Ver¬
muthung kommen kann, die Bearbeitung eines ausländischen Werkes vor sich
zu haben.

Daß die „Kunst über alle Künste" sehr anstößige Stellen enthält, wird
denen, welche den Ton des siebzehnten Jahrhunderts kennen, ebensowenig auf¬
fallen, wie uns dergleichen in Shakespeare selbst, in Bocaccio und in Ansto-
phanes auffällt. Der Dichter ist an seiner Zeit zu messe», und man hatte
damals eben andere Begriffe von Wohlanständigkeit als heutzutage, und treffen
wir auf den einen und den andern durch Rohheit der Empfindung verletzenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/400>, abgerufen am 23.07.2024.