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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Evangelien als geschichtlicher Quellen zu erhöhen. Weisen schon die wieder¬
holten Ueberarbeitungen auf eine Zeit, die den Thatsachen der evangelischen
Geschichte bereits ferner steht, so sind es einerseits jene mythischen, wunder¬
haften Elemente, andrerseits diese dogmatischen Einwirkungen, welche über
die wirkliche Geschichte einen Schleier werfen und uns nur durch ein getrübtes
Medium dieselbe erkennen lassen.

Sehen wir endlich auf den Inhalt der Geschichtserzählung. so bemerken
wir einerseits eine große Verwandtschaft, andrerseits eine große Verschiedenheit
zwischen den einzelnen Evangelien. Jene Verwandtschaft steigert sich oft bis
zu nahezu gleichlautender Wiedergabe einer und derselben Erzählung, allein
daneben finden sich wieder solche Abweichungen, welche weit über das hinaus¬
gehen, was bei der Bearbeitung des nämlichen Stoffes doch immerhin der
Subjectivität verschiedener Verfasser zugestanden werden muß. Nehmen wir an,
daß in anderen Gegenden andere Ueberlieferungen vorherrschten und also auch
andere Evangelien entstehen konnten, oder daß spätere Schriftsteller ausdrücklich
ihre Vorgänger ergänzen wollten mit dem, was ihnen sonst über das Leben
Jesu in zuverlässiger Weise bekannt war, so reicht doch auch dies zur Erklärung
jener Verschiedenheiten noch nicht hin. Denn es ist nicht blos zum Theil ein
verschiedener Stoff, den die einzelnen Evangelien verarbeiten, sondern die ab¬
weichenden Stücke sind auch nicht immer von der Art, daß sie in einer und
derselben Darstellung Platz hätten, daß man also nur die vier Berichte com-
biniren, zusammenfügen dürfte, um eine vollständige Lebensgeschichte Jesu zu
haben. Am widerspruchsvollsten Pflegen solche Erzählungen zu sein, welche am
leichtesten der mythischen Ausbildung verfallen mußten. So wäre es z. B.
vergeblich die Darstellungen, welche die Evangelien von der Vorgeschichte Jesu
oder von Auferstehung und Himmelfahrt geben, zu einer einheitlichen Erzählung
zusammenzubringen. Allein auch abgesehen von Stücken dieser Art ist es
sehr häusig der Fall, daß die verschiedenen Evangelien Erzählungen haben, die
sich gegenseitig geradezu ausschließen, wie z. B. in Bezug auf den Schauplatz
der Lehrwirksamkeit Jesu und auf den Todestag Jesu solche Differenzen vor¬
liegen, oder daß ein Evangelium allein eine wichtige tiefcingrcifcnde Erzählung
hat, von welcher die anderen schweigen und die sie doch hätten erwähnen müssen,
wenn sie sie gekannt hätten, wie dies z. B. der Fall ist mit der Einsetzung des
Abendmahls, welche nur die drei ersten Evangelisten, mit der Auferweckung
des Lazarus, welche nur das Johannesevangelium, mit der Wahl der siebzig
Jünger, welche nur Lucas hat. Es finden also Verschiedenheiten statt, welche
nicht erlauben, den Erzählungsstoff der vier Evangelien einfach in einander
zu schieben. Ein solches mechanisches Verfahren wurde nur die Einheit der
verschiedenen Relationen aufheben und doch keine einheitliche Gesammtdarstellung
erzielen. Jeder Versuch, ein Leben Jesu in der Art zu schreiben, daß hier ein


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Evangelien als geschichtlicher Quellen zu erhöhen. Weisen schon die wieder¬
holten Ueberarbeitungen auf eine Zeit, die den Thatsachen der evangelischen
Geschichte bereits ferner steht, so sind es einerseits jene mythischen, wunder¬
haften Elemente, andrerseits diese dogmatischen Einwirkungen, welche über
die wirkliche Geschichte einen Schleier werfen und uns nur durch ein getrübtes
Medium dieselbe erkennen lassen.

Sehen wir endlich auf den Inhalt der Geschichtserzählung. so bemerken
wir einerseits eine große Verwandtschaft, andrerseits eine große Verschiedenheit
zwischen den einzelnen Evangelien. Jene Verwandtschaft steigert sich oft bis
zu nahezu gleichlautender Wiedergabe einer und derselben Erzählung, allein
daneben finden sich wieder solche Abweichungen, welche weit über das hinaus¬
gehen, was bei der Bearbeitung des nämlichen Stoffes doch immerhin der
Subjectivität verschiedener Verfasser zugestanden werden muß. Nehmen wir an,
daß in anderen Gegenden andere Ueberlieferungen vorherrschten und also auch
andere Evangelien entstehen konnten, oder daß spätere Schriftsteller ausdrücklich
ihre Vorgänger ergänzen wollten mit dem, was ihnen sonst über das Leben
Jesu in zuverlässiger Weise bekannt war, so reicht doch auch dies zur Erklärung
jener Verschiedenheiten noch nicht hin. Denn es ist nicht blos zum Theil ein
verschiedener Stoff, den die einzelnen Evangelien verarbeiten, sondern die ab¬
weichenden Stücke sind auch nicht immer von der Art, daß sie in einer und
derselben Darstellung Platz hätten, daß man also nur die vier Berichte com-
biniren, zusammenfügen dürfte, um eine vollständige Lebensgeschichte Jesu zu
haben. Am widerspruchsvollsten Pflegen solche Erzählungen zu sein, welche am
leichtesten der mythischen Ausbildung verfallen mußten. So wäre es z. B.
vergeblich die Darstellungen, welche die Evangelien von der Vorgeschichte Jesu
oder von Auferstehung und Himmelfahrt geben, zu einer einheitlichen Erzählung
zusammenzubringen. Allein auch abgesehen von Stücken dieser Art ist es
sehr häusig der Fall, daß die verschiedenen Evangelien Erzählungen haben, die
sich gegenseitig geradezu ausschließen, wie z. B. in Bezug auf den Schauplatz
der Lehrwirksamkeit Jesu und auf den Todestag Jesu solche Differenzen vor¬
liegen, oder daß ein Evangelium allein eine wichtige tiefcingrcifcnde Erzählung
hat, von welcher die anderen schweigen und die sie doch hätten erwähnen müssen,
wenn sie sie gekannt hätten, wie dies z. B. der Fall ist mit der Einsetzung des
Abendmahls, welche nur die drei ersten Evangelisten, mit der Auferweckung
des Lazarus, welche nur das Johannesevangelium, mit der Wahl der siebzig
Jünger, welche nur Lucas hat. Es finden also Verschiedenheiten statt, welche
nicht erlauben, den Erzählungsstoff der vier Evangelien einfach in einander
zu schieben. Ein solches mechanisches Verfahren wurde nur die Einheit der
verschiedenen Relationen aufheben und doch keine einheitliche Gesammtdarstellung
erzielen. Jeder Versuch, ein Leben Jesu in der Art zu schreiben, daß hier ein


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[0387] Evangelien als geschichtlicher Quellen zu erhöhen. Weisen schon die wieder¬ holten Ueberarbeitungen auf eine Zeit, die den Thatsachen der evangelischen Geschichte bereits ferner steht, so sind es einerseits jene mythischen, wunder¬ haften Elemente, andrerseits diese dogmatischen Einwirkungen, welche über die wirkliche Geschichte einen Schleier werfen und uns nur durch ein getrübtes Medium dieselbe erkennen lassen. Sehen wir endlich auf den Inhalt der Geschichtserzählung. so bemerken wir einerseits eine große Verwandtschaft, andrerseits eine große Verschiedenheit zwischen den einzelnen Evangelien. Jene Verwandtschaft steigert sich oft bis zu nahezu gleichlautender Wiedergabe einer und derselben Erzählung, allein daneben finden sich wieder solche Abweichungen, welche weit über das hinaus¬ gehen, was bei der Bearbeitung des nämlichen Stoffes doch immerhin der Subjectivität verschiedener Verfasser zugestanden werden muß. Nehmen wir an, daß in anderen Gegenden andere Ueberlieferungen vorherrschten und also auch andere Evangelien entstehen konnten, oder daß spätere Schriftsteller ausdrücklich ihre Vorgänger ergänzen wollten mit dem, was ihnen sonst über das Leben Jesu in zuverlässiger Weise bekannt war, so reicht doch auch dies zur Erklärung jener Verschiedenheiten noch nicht hin. Denn es ist nicht blos zum Theil ein verschiedener Stoff, den die einzelnen Evangelien verarbeiten, sondern die ab¬ weichenden Stücke sind auch nicht immer von der Art, daß sie in einer und derselben Darstellung Platz hätten, daß man also nur die vier Berichte com- biniren, zusammenfügen dürfte, um eine vollständige Lebensgeschichte Jesu zu haben. Am widerspruchsvollsten Pflegen solche Erzählungen zu sein, welche am leichtesten der mythischen Ausbildung verfallen mußten. So wäre es z. B. vergeblich die Darstellungen, welche die Evangelien von der Vorgeschichte Jesu oder von Auferstehung und Himmelfahrt geben, zu einer einheitlichen Erzählung zusammenzubringen. Allein auch abgesehen von Stücken dieser Art ist es sehr häusig der Fall, daß die verschiedenen Evangelien Erzählungen haben, die sich gegenseitig geradezu ausschließen, wie z. B. in Bezug auf den Schauplatz der Lehrwirksamkeit Jesu und auf den Todestag Jesu solche Differenzen vor¬ liegen, oder daß ein Evangelium allein eine wichtige tiefcingrcifcnde Erzählung hat, von welcher die anderen schweigen und die sie doch hätten erwähnen müssen, wenn sie sie gekannt hätten, wie dies z. B. der Fall ist mit der Einsetzung des Abendmahls, welche nur die drei ersten Evangelisten, mit der Auferweckung des Lazarus, welche nur das Johannesevangelium, mit der Wahl der siebzig Jünger, welche nur Lucas hat. Es finden also Verschiedenheiten statt, welche nicht erlauben, den Erzählungsstoff der vier Evangelien einfach in einander zu schieben. Ein solches mechanisches Verfahren wurde nur die Einheit der verschiedenen Relationen aufheben und doch keine einheitliche Gesammtdarstellung erzielen. Jeder Versuch, ein Leben Jesu in der Art zu schreiben, daß hier ein 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/387>, abgerufen am 23.07.2024.