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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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unter dem Namen von Aposteln Aufnahme in unsern Kanon gefunden haben,
sind mitten aus den Interessen der sich bildenden Kirche geschrieben. Es galt
-- und dies waren die gewöhnlichsten Falle -- die Auseinandersetzung zwischen
Paulinern und Petrinern, Aus^leichungsvvrschläge, die von beiden Seiten ge¬
macht wurden . Warnung vor einer Ueberspannung der vorhandenen Gegensätze,
Abwehr extremer ketzerischer Meinungen, und nun griff man in die Urgemcinde
zurück, beschwor ein apostolisches Haupt dieser oder jener Partei und ließ dieses
ein Wort des Friedens oder des Streits reden, um die Ideen, welche jetzt die
angemessenen zu sein schienen, in Umlauf zu bringen. Die Namen der Apostel
wurden also gewählt als eine arglose Empfehlung der Lehren und Einrichtungen
der Kirche. So sind die petrinischen Briefe entstanden, um das spätere mit
dem Paulinismus ausgesöhnte Christenthum auf das Haupt des Judcn-
christenthums zurückzuführen. Indem man dabei nur die Schärfe der paulini-
schen Begriffe vermied, war man sicher, bei den Judenchristen am leichtesten
Eingang zu finden, wenn man ihnen die Autorität ihres Apostelfürsten für die
neue Friedcnsrichtung vorhielt. So ist der Jatobusbricf geschrieben als ein auf
die Autorität dieses Säulenapostel zurückgeführter Protest gegen die Lehre oeS
Heidenapostels, jedoch mit jenen Concessionen, zu welchen um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts bei der großen Verbreitung, welche die neue Lehre in
der Heidenwelt inzwischen gefunden hatte, auch das Judenchristenthum sich
herbeilassen mußte. So sind die Hirtenbriefe auf den Namen des Apostels Pau¬
lus getauft worden, um die kirchlichen Einrichtungen der spätern Zeit, wie die
Polemik gegen die gnostische Settircrei mit seiner Autorität zu versehen. Und
so weisen uns auch die anderen Briefe, welche mit Unrecht den Namen des
Apostels Paulus tragen, auf Verhältnisse, die jener Gegensatz, der sein Leben
bewegte und seine vier echten uns noch erhaltenen Briefe ausfüllt, bereits nach¬
gelassen, eine friedliche, ausgleichende Tendenz Platz gegriffen hatte, aber
auch auf diese das Siegel der apostolischen Autorität gedrückt werden sollte.

Wir müssen uns also an die Vorstellung gewöhnen, daß eine Reihe von
neutestamentlichen Schriften nicht von denjenigen Aposteln und Apostelschülcrn
herrührt, welche die kirchliche Tradition auf ihre Titel gesetzt hat. Aber der
Verlust ist ein scheinbarer, er wird reichlich dadurch aufgewogen, daß diese
Schriften dafür der Geschichte gewonnen werden. Es liegt wenig daran, ob
sie diesen oder jenen zum Verfasser haben; weit wichtiger ist es, aus welcher
geistigen Anschauung heraus, in welcher Atmosphäre sie geschrieben sind, welche
Tendenz sie verfolgen, welche Verhältnisse sie widerspiegeln. Die glänzenden
Aufschriften, die ihnen aufgeklebt sind, verschwinden, aber ihr Inhalt wird um
so verständlicher und werthvoller. Wir müsse" ans authentische Briefe der Ur-
apostel verzichten, aber gewinnen dafür authentische Documente für die nach¬
apostolische Zeit, und auch die urapostolische Zeit wird uns erst dann geschieht-


unter dem Namen von Aposteln Aufnahme in unsern Kanon gefunden haben,
sind mitten aus den Interessen der sich bildenden Kirche geschrieben. Es galt
— und dies waren die gewöhnlichsten Falle — die Auseinandersetzung zwischen
Paulinern und Petrinern, Aus^leichungsvvrschläge, die von beiden Seiten ge¬
macht wurden . Warnung vor einer Ueberspannung der vorhandenen Gegensätze,
Abwehr extremer ketzerischer Meinungen, und nun griff man in die Urgemcinde
zurück, beschwor ein apostolisches Haupt dieser oder jener Partei und ließ dieses
ein Wort des Friedens oder des Streits reden, um die Ideen, welche jetzt die
angemessenen zu sein schienen, in Umlauf zu bringen. Die Namen der Apostel
wurden also gewählt als eine arglose Empfehlung der Lehren und Einrichtungen
der Kirche. So sind die petrinischen Briefe entstanden, um das spätere mit
dem Paulinismus ausgesöhnte Christenthum auf das Haupt des Judcn-
christenthums zurückzuführen. Indem man dabei nur die Schärfe der paulini-
schen Begriffe vermied, war man sicher, bei den Judenchristen am leichtesten
Eingang zu finden, wenn man ihnen die Autorität ihres Apostelfürsten für die
neue Friedcnsrichtung vorhielt. So ist der Jatobusbricf geschrieben als ein auf
die Autorität dieses Säulenapostel zurückgeführter Protest gegen die Lehre oeS
Heidenapostels, jedoch mit jenen Concessionen, zu welchen um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts bei der großen Verbreitung, welche die neue Lehre in
der Heidenwelt inzwischen gefunden hatte, auch das Judenchristenthum sich
herbeilassen mußte. So sind die Hirtenbriefe auf den Namen des Apostels Pau¬
lus getauft worden, um die kirchlichen Einrichtungen der spätern Zeit, wie die
Polemik gegen die gnostische Settircrei mit seiner Autorität zu versehen. Und
so weisen uns auch die anderen Briefe, welche mit Unrecht den Namen des
Apostels Paulus tragen, auf Verhältnisse, die jener Gegensatz, der sein Leben
bewegte und seine vier echten uns noch erhaltenen Briefe ausfüllt, bereits nach¬
gelassen, eine friedliche, ausgleichende Tendenz Platz gegriffen hatte, aber
auch auf diese das Siegel der apostolischen Autorität gedrückt werden sollte.

Wir müssen uns also an die Vorstellung gewöhnen, daß eine Reihe von
neutestamentlichen Schriften nicht von denjenigen Aposteln und Apostelschülcrn
herrührt, welche die kirchliche Tradition auf ihre Titel gesetzt hat. Aber der
Verlust ist ein scheinbarer, er wird reichlich dadurch aufgewogen, daß diese
Schriften dafür der Geschichte gewonnen werden. Es liegt wenig daran, ob
sie diesen oder jenen zum Verfasser haben; weit wichtiger ist es, aus welcher
geistigen Anschauung heraus, in welcher Atmosphäre sie geschrieben sind, welche
Tendenz sie verfolgen, welche Verhältnisse sie widerspiegeln. Die glänzenden
Aufschriften, die ihnen aufgeklebt sind, verschwinden, aber ihr Inhalt wird um
so verständlicher und werthvoller. Wir müsse» ans authentische Briefe der Ur-
apostel verzichten, aber gewinnen dafür authentische Documente für die nach¬
apostolische Zeit, und auch die urapostolische Zeit wird uns erst dann geschieht-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/319>, abgerufen am 23.07.2024.