Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.gleichzeitigen Zeugnissen fehlt es durchaus. Zwischen der Zeit ihres angeblichen Es ist daran erinnert worden, daß selbst in neueren Zeiten absichtliche ') Man vergleiche besonders die Abhandlung (von Zeller) "Die tülnnger historische Schule"
in Sybels historischer Zeitschrift, IV. Band. 1860. gleichzeitigen Zeugnissen fehlt es durchaus. Zwischen der Zeit ihres angeblichen Es ist daran erinnert worden, daß selbst in neueren Zeiten absichtliche ') Man vergleiche besonders die Abhandlung (von Zeller) „Die tülnnger historische Schule"
in Sybels historischer Zeitschrift, IV. Band. 1860. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188873"/> <p xml:id="ID_1039" prev="#ID_1038"> gleichzeitigen Zeugnissen fehlt es durchaus. Zwischen der Zeit ihres angeblichen<lb/> Ursprungs und der Zeit, da sie zum ersten Mal genannt werden, sehen wir acht<lb/> Decennien, bei manchen einen noch größeren Zeitraum verfließen, während<lb/> dessen wir ohne alle sichere Kunde von ihnen sind. Nun ist zwar der Umstand,<lb/> daß eine Schrift nicht erwähnt ist, noch kein Beweis, daß sie noch gar nicht<lb/> vorhanden war. Der Zufall kann mit im Spiel sein; auch kam es ja vor,<lb/> daß Schriften, die unzweifelhaft schon vorhanden waren, aus dogmatischen<lb/> Gründen ignorirt wurden. Die mündliche Tradition konnte ferner immerhin<lb/> eine irrthumlose sein, auch wenn die allmälige Fixirung des Kanons wesentlich<lb/> unter dogmatischen Einflüssen zu Stande kam. Indessen ist schon der Umstand<lb/> bedenklich, daß die Aufnahme einer Schrift in den Kanon identisch war mit<lb/> der Behauptung ihres apostolischen Ursprungs. Dieselben Motive, welche für<lb/> jene entschieden, lagen also auch diesem Urtheil zu Grunde. Und wenn nun<lb/> dieses Urtheil aus inneren Gründen verdächtig ist, wenn z. B. der Inhalt einer<lb/> Schrift auf spätere Verhältnisse weist oder nicht übereinstimmt mit dem, was<lb/> wir sonst in zuverlässiger Weise über ihren angeblichen Verfasser wissen, so fällt<lb/> dann allerdings auch die Wahrnehmung, daß die neutestamentlichen Schriften<lb/> so spät erst bezeugt sind, schwer ins Gewicht. Denn je länger der Abstand<lb/> zwischen dem angeblichen Ursprung einer Schrift und ihrer Bezeugung durch<lb/> kirchliche Schriftsteller ist, um so leichter können sich in dir Tradition unwissent¬<lb/> liche Irrthümer oder absichtliche Unterschiebungen eingeschlichen haben. Erinnern<lb/> wir uns dann weiter der allgemeinen literarischen Verhältnisse jener Zeit, ver¬<lb/> gegenwärtigen wir uns die Zwecke, welche die christlichen Parteien bei ihrer<lb/> schriftstellerischen Thätigkeit verfolgten, gelingt es uns in die Motive einzudringen,<lb/> welche das Zurückdatiren der religiösen Schriften, ihre Zurückführung auf einen<lb/> apostolischen Namen begünstigen mußten, so sind es alle diese Momente zu¬<lb/> sammengenommen, welche erst einen näheren Einblick in die eigenthümliche<lb/> Erscheinung ermöglichen, welche die Pseudonyme Literatur der ältesten Kirche<lb/> darbietet").</p><lb/> <p xml:id="ID_1040" next="#ID_1041"> Es ist daran erinnert worden, daß selbst in neueren Zeiten absichtliche<lb/> Unterschiebungen oder unwissentliche literarische Irrthümer nicht gar so selten<lb/> sind. Kurz nach der Hinrichtung des Königs Karl des Ersten von England, im<lb/> Jahre 1649, erschien unter dem Titel „Königsbild" eine Denkschrift, welche<lb/> der König während seiner Gefangenschaft verfaßt haben sollte. Sie war von<lb/> einem Bischof geschrieben, zu dem Zweck, im Volt ein günstiges Andenken an<lb/> den König zu erwecke», welchen Zweck ihre ungeheure Verbreitung auch erreichte.</p><lb/> <note xml:id="FID_30" place="foot"> ') Man vergleiche besonders die Abhandlung (von Zeller) „Die tülnnger historische Schule"<lb/> in Sybels historischer Zeitschrift, IV. Band. 1860.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0312]
gleichzeitigen Zeugnissen fehlt es durchaus. Zwischen der Zeit ihres angeblichen
Ursprungs und der Zeit, da sie zum ersten Mal genannt werden, sehen wir acht
Decennien, bei manchen einen noch größeren Zeitraum verfließen, während
dessen wir ohne alle sichere Kunde von ihnen sind. Nun ist zwar der Umstand,
daß eine Schrift nicht erwähnt ist, noch kein Beweis, daß sie noch gar nicht
vorhanden war. Der Zufall kann mit im Spiel sein; auch kam es ja vor,
daß Schriften, die unzweifelhaft schon vorhanden waren, aus dogmatischen
Gründen ignorirt wurden. Die mündliche Tradition konnte ferner immerhin
eine irrthumlose sein, auch wenn die allmälige Fixirung des Kanons wesentlich
unter dogmatischen Einflüssen zu Stande kam. Indessen ist schon der Umstand
bedenklich, daß die Aufnahme einer Schrift in den Kanon identisch war mit
der Behauptung ihres apostolischen Ursprungs. Dieselben Motive, welche für
jene entschieden, lagen also auch diesem Urtheil zu Grunde. Und wenn nun
dieses Urtheil aus inneren Gründen verdächtig ist, wenn z. B. der Inhalt einer
Schrift auf spätere Verhältnisse weist oder nicht übereinstimmt mit dem, was
wir sonst in zuverlässiger Weise über ihren angeblichen Verfasser wissen, so fällt
dann allerdings auch die Wahrnehmung, daß die neutestamentlichen Schriften
so spät erst bezeugt sind, schwer ins Gewicht. Denn je länger der Abstand
zwischen dem angeblichen Ursprung einer Schrift und ihrer Bezeugung durch
kirchliche Schriftsteller ist, um so leichter können sich in dir Tradition unwissent¬
liche Irrthümer oder absichtliche Unterschiebungen eingeschlichen haben. Erinnern
wir uns dann weiter der allgemeinen literarischen Verhältnisse jener Zeit, ver¬
gegenwärtigen wir uns die Zwecke, welche die christlichen Parteien bei ihrer
schriftstellerischen Thätigkeit verfolgten, gelingt es uns in die Motive einzudringen,
welche das Zurückdatiren der religiösen Schriften, ihre Zurückführung auf einen
apostolischen Namen begünstigen mußten, so sind es alle diese Momente zu¬
sammengenommen, welche erst einen näheren Einblick in die eigenthümliche
Erscheinung ermöglichen, welche die Pseudonyme Literatur der ältesten Kirche
darbietet").
Es ist daran erinnert worden, daß selbst in neueren Zeiten absichtliche
Unterschiebungen oder unwissentliche literarische Irrthümer nicht gar so selten
sind. Kurz nach der Hinrichtung des Königs Karl des Ersten von England, im
Jahre 1649, erschien unter dem Titel „Königsbild" eine Denkschrift, welche
der König während seiner Gefangenschaft verfaßt haben sollte. Sie war von
einem Bischof geschrieben, zu dem Zweck, im Volt ein günstiges Andenken an
den König zu erwecke», welchen Zweck ihre ungeheure Verbreitung auch erreichte.
') Man vergleiche besonders die Abhandlung (von Zeller) „Die tülnnger historische Schule"
in Sybels historischer Zeitschrift, IV. Band. 1860.
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