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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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rein atomistisches Verfahren wurden die Evangelien in einzelne Stücke zerhackt,
in deren Zusammensetzung das ganze schriftstellerische Geschäft ihrer Verfasser
bestanden haben sollte. Dabei artete der versuchte Nachweis der stilistischen
Eigenthümlichkeiten und Feinheiten, die er in jedem der acht Urevangelien zu
erkennen glaubte, in eine kindische Spielerei aus; das Ganze war ein labyrin¬
thisches Gewirr von verschrobenen Hypothesen, die aber selbstverständlich im ge¬
spreizten Tone der Unfehlbarkeit und unter dem Erguß giftiger Persönlichkeiten
vorgetragen wurden. An dem befremdenden Eindruck, den die^se Ewaldscbcn
Phantasien machten, kannte man recht deutlich abnehmen, wie weit die alte
Hypvthesenperiodc durch die eindringenden Forschungen Baues schon zurück¬
gedrängt war. Auch die literarische Seite der Evangelienkritik versprach nur
dann einen wirklichen Erfolg, wenn man auf dein von Baur eröffneten Weg
der Analyse der einzelnen Evangelien weiter ging. Diesen Weg schlugen nun
namentlich Kostim, Hilgenfeld und Volckmar ein und erzielten auf ihm bleibende
Resultate.

Kostim insbesondere hat mit seiner Schrift: Der "Ursprung und die Kom¬
position der synoptischen Evangelien" ein Muster von gründlicher und besonnener
' Untersuchung gegeben. Mit wahrem Bienenflciße ging er den Spuren von den
Quellen nach, aus welchen der Stoff unsrer Evangelien geschöpft ist, und kam
hierbei auf Schlüsse, welche die baurschcn Ansichten nicht unbedeutend modi-
ficirten. so glaubte er nachweisen zu können, daß, obwohl Matthäus die
Hauptquelle der evangelischen Geschichte und Lehre bleibe, doch auch dem Marcus
und Lucas sich eine geschichtliche Seite abgewinnen und ihre Beiträge zu einer
vollständigeren Auffassung der Lebre Jesu sich nutzbar machen lassen. Und
während Baur alle Evangelien tief in das zweite Jahrhundert herabgerückt
hatte, setzte er die Entstehung des Matthäus und Lucas noch in das erste Jahr¬
hundert, die des Marcus in das erste Jahrzehnt des zweiten'Jahrhunderts.
Hilgenfeld. welcher nach dem Aufhören der theologischen Jahrbücher in seiner
"Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie" der freien Forschung eine neue Stätte
eröffnete, verbreitete sich in einer großen Reihe werthvoller Monographien über
das ganze Gebiet der urchristlicher Literatur, wobei er theils den Zusammen¬
hang der kanonischen Evangelien mit den außerkanvnischcn, theils ihr gegen"
heiliges schriftstellerisches Abhängigkeitsverhältniß näher zu bestimmen suchte.
Noch angelegentlicher als Kostim ging er darauf aus. überall da zu vermitteln
und auszugleichen, wo Baur, wie er meinte, "dem Glauben allzu tiefe Wunden
geschlagen hatte". So wies er die drei synoptischen Evangelien sämmtlich noch
dem ersten Jahrhundert zu. schwächte den Gegensatz zwischen Paulus und den
Urapostel" ab, erkannte mehre von den kleineren paulinischen Briefen wieder
dem Heidcnapostel zu und setzte auch das Johanuesevangelium ein paar Jah"
zehnte früher als Baur (etwa 120--140 nach Ehr.), konnte aber gleichwohl


rein atomistisches Verfahren wurden die Evangelien in einzelne Stücke zerhackt,
in deren Zusammensetzung das ganze schriftstellerische Geschäft ihrer Verfasser
bestanden haben sollte. Dabei artete der versuchte Nachweis der stilistischen
Eigenthümlichkeiten und Feinheiten, die er in jedem der acht Urevangelien zu
erkennen glaubte, in eine kindische Spielerei aus; das Ganze war ein labyrin¬
thisches Gewirr von verschrobenen Hypothesen, die aber selbstverständlich im ge¬
spreizten Tone der Unfehlbarkeit und unter dem Erguß giftiger Persönlichkeiten
vorgetragen wurden. An dem befremdenden Eindruck, den die^se Ewaldscbcn
Phantasien machten, kannte man recht deutlich abnehmen, wie weit die alte
Hypvthesenperiodc durch die eindringenden Forschungen Baues schon zurück¬
gedrängt war. Auch die literarische Seite der Evangelienkritik versprach nur
dann einen wirklichen Erfolg, wenn man auf dein von Baur eröffneten Weg
der Analyse der einzelnen Evangelien weiter ging. Diesen Weg schlugen nun
namentlich Kostim, Hilgenfeld und Volckmar ein und erzielten auf ihm bleibende
Resultate.

Kostim insbesondere hat mit seiner Schrift: Der „Ursprung und die Kom¬
position der synoptischen Evangelien" ein Muster von gründlicher und besonnener
' Untersuchung gegeben. Mit wahrem Bienenflciße ging er den Spuren von den
Quellen nach, aus welchen der Stoff unsrer Evangelien geschöpft ist, und kam
hierbei auf Schlüsse, welche die baurschcn Ansichten nicht unbedeutend modi-
ficirten. so glaubte er nachweisen zu können, daß, obwohl Matthäus die
Hauptquelle der evangelischen Geschichte und Lehre bleibe, doch auch dem Marcus
und Lucas sich eine geschichtliche Seite abgewinnen und ihre Beiträge zu einer
vollständigeren Auffassung der Lebre Jesu sich nutzbar machen lassen. Und
während Baur alle Evangelien tief in das zweite Jahrhundert herabgerückt
hatte, setzte er die Entstehung des Matthäus und Lucas noch in das erste Jahr¬
hundert, die des Marcus in das erste Jahrzehnt des zweiten'Jahrhunderts.
Hilgenfeld. welcher nach dem Aufhören der theologischen Jahrbücher in seiner
„Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie" der freien Forschung eine neue Stätte
eröffnete, verbreitete sich in einer großen Reihe werthvoller Monographien über
das ganze Gebiet der urchristlicher Literatur, wobei er theils den Zusammen¬
hang der kanonischen Evangelien mit den außerkanvnischcn, theils ihr gegen«
heiliges schriftstellerisches Abhängigkeitsverhältniß näher zu bestimmen suchte.
Noch angelegentlicher als Kostim ging er darauf aus. überall da zu vermitteln
und auszugleichen, wo Baur, wie er meinte, „dem Glauben allzu tiefe Wunden
geschlagen hatte". So wies er die drei synoptischen Evangelien sämmtlich noch
dem ersten Jahrhundert zu. schwächte den Gegensatz zwischen Paulus und den
Urapostel» ab, erkannte mehre von den kleineren paulinischen Briefen wieder
dem Heidcnapostel zu und setzte auch das Johanuesevangelium ein paar Jah»
zehnte früher als Baur (etwa 120—140 nach Ehr.), konnte aber gleichwohl


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/234>, abgerufen am 23.07.2024.