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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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der Centralisation. Allein es wiederholte sich hier gewissermaßen die Stellung
des alten Roms zum alten Griechenland, jener Kampf, in welchem die straffe
Einheit des ersteren über die unpraktische und machtlose Zersplitterung des letz¬
teren einen so entscheidenden Sieg davontrug. Auch jetzt wieder war der Erfolg
der gleiche: Rom handelte, während die Orientalen sich begnügten zu Protestiren.

Es lag etwas Blendendes, Imponirendes in dem kühnen Ausbau Schweg-
lers, aber zugleich an vielen Stellen etwas gewaltsam Construirendes, das leb¬
haften Widerspruch hervorrief und noch mancher genauerer Untersuchungen be¬
dürfte, welche den verschiedenen Gliedern in jenem Entwickelungsgang vielfach
eine andere Stellung anwiesen. Insbesondere aber wurde dies als eine Lücke
empfunden , daß der Paulinismus als etwas völlig Neues im Grunde außer¬
halb des Urchristenthums stand, und zwischen Jesus und Paulus somit eine
unausgefüllte Kluft blieb. Hier griff zuerst Planck mit seiner Abhandlung:
Judenthum und Urchristenthum (1847) ein, indem er zu zeigen suchte, daß
das, was das Wesen des Paulinismus ausmache, auch schon im Urchristen¬
thum gelegen und nicht erst in Paulus, sondern auch schon in Jesus hervor¬
getreten sei. Nur der Unterschied sei zwischen Jesus und Paulus, daß der
Paulinismus für das Bewußtsein ausgesprochen habe, was an sich schon that¬
sächlich im Urchristenthum gesagt war. Einen andern Bermittlungsweg schlug
Kostim ein in der Abhandlung: Zur Geschichte des Urchristenthums (1850).
Nach ihm waren sowohl der Paulinismus als der Ebionitismus von jeher Ex¬
treme, welche nur zweimal, in den letzten Jahren des Apostels Paulus und
dann im zweiten Jahrhundert bei dem Streit zwischen dem Ebionitismus und
der Gnosis in heftigen Conflict mit einander kamen. In der Mehrzahl dagegen
herrschte von Anfang an ein mittleres, praktisches Interesse vor, aus welchem
endlich mit Ausscheidung der Extreme die katholische Kirche hervorging. In
den schärfsten Gegensatz zu Schwegler setzte sich Ritschl (Entstehung der alt-
katholischen Kirche, 1850). Nach dem Vorgange Georgiis setzte er das eigent¬
liche Christenthum in den Paulinismus, der aber unter dem Einfluß des Juden¬
christenthums allmälig seine doctrinäre Schroffheit verloren, in andern Beziehungen
wieder eine Ergänzung und festere Normen erhalten habe und so zum Katho¬
licismus geworden sei. Um' einen einheitlichen Anfang für die Entwickelung
zu erhalten, ging Ritschl auf Jesus selbst zurück, in welchem er zwei Momente
unterschied, seine Lehre und seine Persönlichkeit; jene verlangte die Erfüllung
des Gesetzes, diese führte als die Selbstdarstellung des Gesetzes über dasselbe
hinaus; letzteres wurde die Grundlage des Paulinismus, während die juden¬
christlichen Urapostel sich einseitig an die Lehre hielten. In der zweiten um¬
gearbeiteten Auflage seines Werks (1857) führte Ritschl seinen Grundgedanken
noch schärfer aus,-daß das katholische Christenthum nur eine Abwandlung des
Paulinismus sei, lenkte aber durch das sichtliche Bestreben, die Gegensätze mög-


der Centralisation. Allein es wiederholte sich hier gewissermaßen die Stellung
des alten Roms zum alten Griechenland, jener Kampf, in welchem die straffe
Einheit des ersteren über die unpraktische und machtlose Zersplitterung des letz¬
teren einen so entscheidenden Sieg davontrug. Auch jetzt wieder war der Erfolg
der gleiche: Rom handelte, während die Orientalen sich begnügten zu Protestiren.

Es lag etwas Blendendes, Imponirendes in dem kühnen Ausbau Schweg-
lers, aber zugleich an vielen Stellen etwas gewaltsam Construirendes, das leb¬
haften Widerspruch hervorrief und noch mancher genauerer Untersuchungen be¬
dürfte, welche den verschiedenen Gliedern in jenem Entwickelungsgang vielfach
eine andere Stellung anwiesen. Insbesondere aber wurde dies als eine Lücke
empfunden , daß der Paulinismus als etwas völlig Neues im Grunde außer¬
halb des Urchristenthums stand, und zwischen Jesus und Paulus somit eine
unausgefüllte Kluft blieb. Hier griff zuerst Planck mit seiner Abhandlung:
Judenthum und Urchristenthum (1847) ein, indem er zu zeigen suchte, daß
das, was das Wesen des Paulinismus ausmache, auch schon im Urchristen¬
thum gelegen und nicht erst in Paulus, sondern auch schon in Jesus hervor¬
getreten sei. Nur der Unterschied sei zwischen Jesus und Paulus, daß der
Paulinismus für das Bewußtsein ausgesprochen habe, was an sich schon that¬
sächlich im Urchristenthum gesagt war. Einen andern Bermittlungsweg schlug
Kostim ein in der Abhandlung: Zur Geschichte des Urchristenthums (1850).
Nach ihm waren sowohl der Paulinismus als der Ebionitismus von jeher Ex¬
treme, welche nur zweimal, in den letzten Jahren des Apostels Paulus und
dann im zweiten Jahrhundert bei dem Streit zwischen dem Ebionitismus und
der Gnosis in heftigen Conflict mit einander kamen. In der Mehrzahl dagegen
herrschte von Anfang an ein mittleres, praktisches Interesse vor, aus welchem
endlich mit Ausscheidung der Extreme die katholische Kirche hervorging. In
den schärfsten Gegensatz zu Schwegler setzte sich Ritschl (Entstehung der alt-
katholischen Kirche, 1850). Nach dem Vorgange Georgiis setzte er das eigent¬
liche Christenthum in den Paulinismus, der aber unter dem Einfluß des Juden¬
christenthums allmälig seine doctrinäre Schroffheit verloren, in andern Beziehungen
wieder eine Ergänzung und festere Normen erhalten habe und so zum Katho¬
licismus geworden sei. Um' einen einheitlichen Anfang für die Entwickelung
zu erhalten, ging Ritschl auf Jesus selbst zurück, in welchem er zwei Momente
unterschied, seine Lehre und seine Persönlichkeit; jene verlangte die Erfüllung
des Gesetzes, diese führte als die Selbstdarstellung des Gesetzes über dasselbe
hinaus; letzteres wurde die Grundlage des Paulinismus, während die juden¬
christlichen Urapostel sich einseitig an die Lehre hielten. In der zweiten um¬
gearbeiteten Auflage seines Werks (1857) führte Ritschl seinen Grundgedanken
noch schärfer aus,-daß das katholische Christenthum nur eine Abwandlung des
Paulinismus sei, lenkte aber durch das sichtliche Bestreben, die Gegensätze mög-


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[0232] der Centralisation. Allein es wiederholte sich hier gewissermaßen die Stellung des alten Roms zum alten Griechenland, jener Kampf, in welchem die straffe Einheit des ersteren über die unpraktische und machtlose Zersplitterung des letz¬ teren einen so entscheidenden Sieg davontrug. Auch jetzt wieder war der Erfolg der gleiche: Rom handelte, während die Orientalen sich begnügten zu Protestiren. Es lag etwas Blendendes, Imponirendes in dem kühnen Ausbau Schweg- lers, aber zugleich an vielen Stellen etwas gewaltsam Construirendes, das leb¬ haften Widerspruch hervorrief und noch mancher genauerer Untersuchungen be¬ dürfte, welche den verschiedenen Gliedern in jenem Entwickelungsgang vielfach eine andere Stellung anwiesen. Insbesondere aber wurde dies als eine Lücke empfunden , daß der Paulinismus als etwas völlig Neues im Grunde außer¬ halb des Urchristenthums stand, und zwischen Jesus und Paulus somit eine unausgefüllte Kluft blieb. Hier griff zuerst Planck mit seiner Abhandlung: Judenthum und Urchristenthum (1847) ein, indem er zu zeigen suchte, daß das, was das Wesen des Paulinismus ausmache, auch schon im Urchristen¬ thum gelegen und nicht erst in Paulus, sondern auch schon in Jesus hervor¬ getreten sei. Nur der Unterschied sei zwischen Jesus und Paulus, daß der Paulinismus für das Bewußtsein ausgesprochen habe, was an sich schon that¬ sächlich im Urchristenthum gesagt war. Einen andern Bermittlungsweg schlug Kostim ein in der Abhandlung: Zur Geschichte des Urchristenthums (1850). Nach ihm waren sowohl der Paulinismus als der Ebionitismus von jeher Ex¬ treme, welche nur zweimal, in den letzten Jahren des Apostels Paulus und dann im zweiten Jahrhundert bei dem Streit zwischen dem Ebionitismus und der Gnosis in heftigen Conflict mit einander kamen. In der Mehrzahl dagegen herrschte von Anfang an ein mittleres, praktisches Interesse vor, aus welchem endlich mit Ausscheidung der Extreme die katholische Kirche hervorging. In den schärfsten Gegensatz zu Schwegler setzte sich Ritschl (Entstehung der alt- katholischen Kirche, 1850). Nach dem Vorgange Georgiis setzte er das eigent¬ liche Christenthum in den Paulinismus, der aber unter dem Einfluß des Juden¬ christenthums allmälig seine doctrinäre Schroffheit verloren, in andern Beziehungen wieder eine Ergänzung und festere Normen erhalten habe und so zum Katho¬ licismus geworden sei. Um' einen einheitlichen Anfang für die Entwickelung zu erhalten, ging Ritschl auf Jesus selbst zurück, in welchem er zwei Momente unterschied, seine Lehre und seine Persönlichkeit; jene verlangte die Erfüllung des Gesetzes, diese führte als die Selbstdarstellung des Gesetzes über dasselbe hinaus; letzteres wurde die Grundlage des Paulinismus, während die juden¬ christlichen Urapostel sich einseitig an die Lehre hielten. In der zweiten um¬ gearbeiteten Auflage seines Werks (1857) führte Ritschl seinen Grundgedanken noch schärfer aus,-daß das katholische Christenthum nur eine Abwandlung des Paulinismus sei, lenkte aber durch das sichtliche Bestreben, die Gegensätze mög-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/232>, abgerufen am 23.07.2024.