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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Grundlage des thüringischen Volksthums für eine slavische erklärt bat, ein
Irrthum dessen Widerlegung aus der Geschichte, Sprache und noch lebenden
Voltserinnerungcn nicht schwer ist. Allerdings sind' in der Völkerwanderung
und den darauf folgenden Jahrhunderten auch Slaven über die Saale gedrun¬
gen, und haben eine nicht ganz unbedeutende Zahl thüringischer Orte gegrün¬
det, wo sie im Laufe des Mittelalters allmälig unter der deutschen Bevölkerung
verschwanden. Aber wir vermögen noch häufig aus Dorfraum und anderen
Traditionen zu erkennen, welche einzelne Orte dies waren. Und im Vergleich
der gesammten Erinnerungen Thüringens mit benachbarten Landschaften z. B.
in Reuß, dem Voigtlonde, einen kleinen östlichen Grenzbczirk Meiningens zeigen
noch heut sehr deutlich den Unterschied in Volksthum und alten Traditionen
zwischen den colonisirten Slavenstrichen am Ostrande und zwischen dem deut¬
schen Stamm der Landschaft selbst.

In vielen Fällen nämlich erkennen wir aus dem Inhalt der heimischen
Dvrfsagen und Märchen Thüringens, so wie aus Gebräuchen und Aberglauben,
daß sie noch aus der deutschen Heidenzeit stammen, in andern Fällen haben
wir historische Zeugnisse dafür. Einige der deutschen Götternamen, welche uns
schon die späteren Römer überliefert haben, leben noch jetzt in Bergnamen und
Sagen der Thüringer fort. Dieselbe" Geschichten von Kobolden, welche der
Landmann an der Orla und Apfelstädt noch heut erzählt, finden sich in süd¬
deutschen Klostcrannalen an> der Zeit Karl des Großen, als bedenkliche Spuk¬
geschichten fast mit denselben Worten. Einzelne Volkslieder, welche bis zur
Neuzeit auch in Thüringen gelebt haben, sind, rote wir sicher nachweisen können,
schon zur Heidenzeit bei weit auseinanderwvhnenden deutschen Stämmen am
Heerdfeuer von wandernden Sängern gesungen worden z. B. das Räthseilied,
weiches auch in Thüringen noch nicht verklungen ist: ,

"Was ist weißer als der Schnee? Was ist grüner als der Klee?" --
Ja die erste uns bewahrte Aufzeichnung eines epischen Liedes aus der deut¬
schen Heldensage -- das Bruchstück Hildebrand und Hadubrand -- ist wahr¬
scheinlich in Thüringen niedergeschrieben, und zeigt die halb niederdeutschen
Dialetttlänge unserer Landschaft, mehr als vierhundert Jahre vor der Zeit,
in welcher Walter von der Vogelweide durch die Straßen von Eisenach schritt.
Und der gute Vogel Storch verrichtete seine verdienstliche Arbeit, die klei¬
nen Kinder der Thüringer aus dem Zauberbrunnen zu holen, schon lange,
bevor der Heidenbckehrende Mönch Bonifacius den ersten Axthieb in die bei¬
ligen Eichen bei Gcorgenthal that. Das ganze Gemüthsleben, alle Sagen.
Märchen. Sprüchwörter sind in Thüringen so urdeutsch, daß man sich eher
darüber wundern mag, wie die slavischen eingesprengten Kolonien so geringe
Spuren in dem geistigen Besitz des Stammes zurückgelassen haben. Damit
ist nicht gesagt, daß die Bewohner Thüringens in die Bewegung der neueren


Grundlage des thüringischen Volksthums für eine slavische erklärt bat, ein
Irrthum dessen Widerlegung aus der Geschichte, Sprache und noch lebenden
Voltserinnerungcn nicht schwer ist. Allerdings sind' in der Völkerwanderung
und den darauf folgenden Jahrhunderten auch Slaven über die Saale gedrun¬
gen, und haben eine nicht ganz unbedeutende Zahl thüringischer Orte gegrün¬
det, wo sie im Laufe des Mittelalters allmälig unter der deutschen Bevölkerung
verschwanden. Aber wir vermögen noch häufig aus Dorfraum und anderen
Traditionen zu erkennen, welche einzelne Orte dies waren. Und im Vergleich
der gesammten Erinnerungen Thüringens mit benachbarten Landschaften z. B.
in Reuß, dem Voigtlonde, einen kleinen östlichen Grenzbczirk Meiningens zeigen
noch heut sehr deutlich den Unterschied in Volksthum und alten Traditionen
zwischen den colonisirten Slavenstrichen am Ostrande und zwischen dem deut¬
schen Stamm der Landschaft selbst.

In vielen Fällen nämlich erkennen wir aus dem Inhalt der heimischen
Dvrfsagen und Märchen Thüringens, so wie aus Gebräuchen und Aberglauben,
daß sie noch aus der deutschen Heidenzeit stammen, in andern Fällen haben
wir historische Zeugnisse dafür. Einige der deutschen Götternamen, welche uns
schon die späteren Römer überliefert haben, leben noch jetzt in Bergnamen und
Sagen der Thüringer fort. Dieselbe» Geschichten von Kobolden, welche der
Landmann an der Orla und Apfelstädt noch heut erzählt, finden sich in süd¬
deutschen Klostcrannalen an> der Zeit Karl des Großen, als bedenkliche Spuk¬
geschichten fast mit denselben Worten. Einzelne Volkslieder, welche bis zur
Neuzeit auch in Thüringen gelebt haben, sind, rote wir sicher nachweisen können,
schon zur Heidenzeit bei weit auseinanderwvhnenden deutschen Stämmen am
Heerdfeuer von wandernden Sängern gesungen worden z. B. das Räthseilied,
weiches auch in Thüringen noch nicht verklungen ist: ,

„Was ist weißer als der Schnee? Was ist grüner als der Klee?" —
Ja die erste uns bewahrte Aufzeichnung eines epischen Liedes aus der deut¬
schen Heldensage — das Bruchstück Hildebrand und Hadubrand — ist wahr¬
scheinlich in Thüringen niedergeschrieben, und zeigt die halb niederdeutschen
Dialetttlänge unserer Landschaft, mehr als vierhundert Jahre vor der Zeit,
in welcher Walter von der Vogelweide durch die Straßen von Eisenach schritt.
Und der gute Vogel Storch verrichtete seine verdienstliche Arbeit, die klei¬
nen Kinder der Thüringer aus dem Zauberbrunnen zu holen, schon lange,
bevor der Heidenbckehrende Mönch Bonifacius den ersten Axthieb in die bei¬
ligen Eichen bei Gcorgenthal that. Das ganze Gemüthsleben, alle Sagen.
Märchen. Sprüchwörter sind in Thüringen so urdeutsch, daß man sich eher
darüber wundern mag, wie die slavischen eingesprengten Kolonien so geringe
Spuren in dem geistigen Besitz des Stammes zurückgelassen haben. Damit
ist nicht gesagt, daß die Bewohner Thüringens in die Bewegung der neueren


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[0214] Grundlage des thüringischen Volksthums für eine slavische erklärt bat, ein Irrthum dessen Widerlegung aus der Geschichte, Sprache und noch lebenden Voltserinnerungcn nicht schwer ist. Allerdings sind' in der Völkerwanderung und den darauf folgenden Jahrhunderten auch Slaven über die Saale gedrun¬ gen, und haben eine nicht ganz unbedeutende Zahl thüringischer Orte gegrün¬ det, wo sie im Laufe des Mittelalters allmälig unter der deutschen Bevölkerung verschwanden. Aber wir vermögen noch häufig aus Dorfraum und anderen Traditionen zu erkennen, welche einzelne Orte dies waren. Und im Vergleich der gesammten Erinnerungen Thüringens mit benachbarten Landschaften z. B. in Reuß, dem Voigtlonde, einen kleinen östlichen Grenzbczirk Meiningens zeigen noch heut sehr deutlich den Unterschied in Volksthum und alten Traditionen zwischen den colonisirten Slavenstrichen am Ostrande und zwischen dem deut¬ schen Stamm der Landschaft selbst. In vielen Fällen nämlich erkennen wir aus dem Inhalt der heimischen Dvrfsagen und Märchen Thüringens, so wie aus Gebräuchen und Aberglauben, daß sie noch aus der deutschen Heidenzeit stammen, in andern Fällen haben wir historische Zeugnisse dafür. Einige der deutschen Götternamen, welche uns schon die späteren Römer überliefert haben, leben noch jetzt in Bergnamen und Sagen der Thüringer fort. Dieselbe» Geschichten von Kobolden, welche der Landmann an der Orla und Apfelstädt noch heut erzählt, finden sich in süd¬ deutschen Klostcrannalen an> der Zeit Karl des Großen, als bedenkliche Spuk¬ geschichten fast mit denselben Worten. Einzelne Volkslieder, welche bis zur Neuzeit auch in Thüringen gelebt haben, sind, rote wir sicher nachweisen können, schon zur Heidenzeit bei weit auseinanderwvhnenden deutschen Stämmen am Heerdfeuer von wandernden Sängern gesungen worden z. B. das Räthseilied, weiches auch in Thüringen noch nicht verklungen ist: , „Was ist weißer als der Schnee? Was ist grüner als der Klee?" — Ja die erste uns bewahrte Aufzeichnung eines epischen Liedes aus der deut¬ schen Heldensage — das Bruchstück Hildebrand und Hadubrand — ist wahr¬ scheinlich in Thüringen niedergeschrieben, und zeigt die halb niederdeutschen Dialetttlänge unserer Landschaft, mehr als vierhundert Jahre vor der Zeit, in welcher Walter von der Vogelweide durch die Straßen von Eisenach schritt. Und der gute Vogel Storch verrichtete seine verdienstliche Arbeit, die klei¬ nen Kinder der Thüringer aus dem Zauberbrunnen zu holen, schon lange, bevor der Heidenbckehrende Mönch Bonifacius den ersten Axthieb in die bei¬ ligen Eichen bei Gcorgenthal that. Das ganze Gemüthsleben, alle Sagen. Märchen. Sprüchwörter sind in Thüringen so urdeutsch, daß man sich eher darüber wundern mag, wie die slavischen eingesprengten Kolonien so geringe Spuren in dem geistigen Besitz des Stammes zurückgelassen haben. Damit ist nicht gesagt, daß die Bewohner Thüringens in die Bewegung der neueren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/214>, abgerufen am 23.07.2024.