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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Paulus. Jenem wird der judaisircnde, diesem der specifisch universalistische
Charakter abgestreift. Jener erscheint so viel als möglich wie Paulus, dieser so
viel als möglich wie Petrus. Keine Probe von Gcsetzesgcrechtigkeit wird dem Pau¬
lus erlassen, während die erste Thätigkeit unter den Heiden dem Petrus vin-
dicirt wird. Paulus beobachtet alle möglichen Rücksichten gegen die Urapostel
und gegen das jüdische Volk, sein polemischer Standpunkt gegen das Gesetz ist
spurlos verwischt, während umgekehrt diejenigen Grundsätze, welche Paulus in
seinen Briefen über die Gleichheit der Juden und Christen gegenüber dem
messiamschen Heil entwickelt, überall von den judenchristlichcn Aposteln aus¬
gesprochen und ausgeübt werden. Beide Apostelhäupter werden so einander
näher gerückt, weil es das Interesse der späteren Zeit war, das petrinische und
paulinische Christenthum, welche die Kirche spalteten, während von außen die
Ketzereien immer bedrohlicher auftraten, auf einer neutralen Basis auszugleichen.
Daraus ergab sich auch für den Verfasser der Apostelgeschichte und die Zeit
ihrer Entstehung eine andere Ansicht als die der Tradition. Sie kann nicht
Von Lucas, dem Reisebegleiter des Paulus, verfaßt sein, wenn auch dessen
Aufzeichnungen namentlich für die letzte Reise des Apostels benutzt sein mögen,
sie kann nur der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehören, derselben
Zeit, welche auch in sonstigen Schriftdenkmäler dasselbe katholische Interesse verräth.

Aber die historischen Momente, welche sich aus den Briefen des Apostels
Paulus gewinnen ließen, wurden zu Waffen nicht blos gegen die Glaubwürdig¬
keit der Apostelgeschichte, sondern auch gegen die Echtheit eines Theiles der
paulinischen Briefe selbst. Nur in den vier großen Briefen an die Galater.
an die Römer und in den beiden Korintherbricfcn zeigte sich jener Gegensatz
in seiner ursprünglichen Schärfe, nur in ihnen schien sich die ganze Kraft und
Eigenthümlichkeit des großen Hcidcnapostels auszuprägen, nur sie werden darum
für unzweifelhaft echt erklärt. Bereits in abgeschwächter Gestalt erscheinen die
paulinischen Gedanken in den Briefen an die Epheser, Kolosser, Philipper, an
Philemon und an die Thessalonicher. Die Darstellung ist matt, die Lehre von
der Rechtfertigung verflacht, die Absicht mehr auf das Praktische, Erbauliche
gestellt. Dabei hat die Anschauung von der Person Christi schon eine bedeu¬
tende Steigerung erfahren, namentlich die Lehre von der Präexistenz, von der
kosmischen Bedeutung Christi ist weiter entwickelt. Auch in den mehrfachen
Beziehungen auf die Sekten des zweiten Jahrhunderts und in dem hervor¬
tretenden Streben nach Einheit in Lehre und Verfassung verräth sich die spä¬
tere Absassungszeit. Noch bestimmter treten alle diese Merkmale bei den
sogenannten Hirtenbriefen (den Briefen an Timotheus und Titus) auf. Sie
setzen kirchliche Einrichtungen voraus, wie sie erst spät sich entwickelt haben
und führen eine Polemik gegen Irrlehrer, welche ohne Frage die Gnostiker/
religivnsphilosvphische Sekten des zweiten Jahrhunderts, sind.


Paulus. Jenem wird der judaisircnde, diesem der specifisch universalistische
Charakter abgestreift. Jener erscheint so viel als möglich wie Paulus, dieser so
viel als möglich wie Petrus. Keine Probe von Gcsetzesgcrechtigkeit wird dem Pau¬
lus erlassen, während die erste Thätigkeit unter den Heiden dem Petrus vin-
dicirt wird. Paulus beobachtet alle möglichen Rücksichten gegen die Urapostel
und gegen das jüdische Volk, sein polemischer Standpunkt gegen das Gesetz ist
spurlos verwischt, während umgekehrt diejenigen Grundsätze, welche Paulus in
seinen Briefen über die Gleichheit der Juden und Christen gegenüber dem
messiamschen Heil entwickelt, überall von den judenchristlichcn Aposteln aus¬
gesprochen und ausgeübt werden. Beide Apostelhäupter werden so einander
näher gerückt, weil es das Interesse der späteren Zeit war, das petrinische und
paulinische Christenthum, welche die Kirche spalteten, während von außen die
Ketzereien immer bedrohlicher auftraten, auf einer neutralen Basis auszugleichen.
Daraus ergab sich auch für den Verfasser der Apostelgeschichte und die Zeit
ihrer Entstehung eine andere Ansicht als die der Tradition. Sie kann nicht
Von Lucas, dem Reisebegleiter des Paulus, verfaßt sein, wenn auch dessen
Aufzeichnungen namentlich für die letzte Reise des Apostels benutzt sein mögen,
sie kann nur der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehören, derselben
Zeit, welche auch in sonstigen Schriftdenkmäler dasselbe katholische Interesse verräth.

Aber die historischen Momente, welche sich aus den Briefen des Apostels
Paulus gewinnen ließen, wurden zu Waffen nicht blos gegen die Glaubwürdig¬
keit der Apostelgeschichte, sondern auch gegen die Echtheit eines Theiles der
paulinischen Briefe selbst. Nur in den vier großen Briefen an die Galater.
an die Römer und in den beiden Korintherbricfcn zeigte sich jener Gegensatz
in seiner ursprünglichen Schärfe, nur in ihnen schien sich die ganze Kraft und
Eigenthümlichkeit des großen Hcidcnapostels auszuprägen, nur sie werden darum
für unzweifelhaft echt erklärt. Bereits in abgeschwächter Gestalt erscheinen die
paulinischen Gedanken in den Briefen an die Epheser, Kolosser, Philipper, an
Philemon und an die Thessalonicher. Die Darstellung ist matt, die Lehre von
der Rechtfertigung verflacht, die Absicht mehr auf das Praktische, Erbauliche
gestellt. Dabei hat die Anschauung von der Person Christi schon eine bedeu¬
tende Steigerung erfahren, namentlich die Lehre von der Präexistenz, von der
kosmischen Bedeutung Christi ist weiter entwickelt. Auch in den mehrfachen
Beziehungen auf die Sekten des zweiten Jahrhunderts und in dem hervor¬
tretenden Streben nach Einheit in Lehre und Verfassung verräth sich die spä¬
tere Absassungszeit. Noch bestimmter treten alle diese Merkmale bei den
sogenannten Hirtenbriefen (den Briefen an Timotheus und Titus) auf. Sie
setzen kirchliche Einrichtungen voraus, wie sie erst spät sich entwickelt haben
und führen eine Polemik gegen Irrlehrer, welche ohne Frage die Gnostiker/
religivnsphilosvphische Sekten des zweiten Jahrhunderts, sind.


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[0146] Paulus. Jenem wird der judaisircnde, diesem der specifisch universalistische Charakter abgestreift. Jener erscheint so viel als möglich wie Paulus, dieser so viel als möglich wie Petrus. Keine Probe von Gcsetzesgcrechtigkeit wird dem Pau¬ lus erlassen, während die erste Thätigkeit unter den Heiden dem Petrus vin- dicirt wird. Paulus beobachtet alle möglichen Rücksichten gegen die Urapostel und gegen das jüdische Volk, sein polemischer Standpunkt gegen das Gesetz ist spurlos verwischt, während umgekehrt diejenigen Grundsätze, welche Paulus in seinen Briefen über die Gleichheit der Juden und Christen gegenüber dem messiamschen Heil entwickelt, überall von den judenchristlichcn Aposteln aus¬ gesprochen und ausgeübt werden. Beide Apostelhäupter werden so einander näher gerückt, weil es das Interesse der späteren Zeit war, das petrinische und paulinische Christenthum, welche die Kirche spalteten, während von außen die Ketzereien immer bedrohlicher auftraten, auf einer neutralen Basis auszugleichen. Daraus ergab sich auch für den Verfasser der Apostelgeschichte und die Zeit ihrer Entstehung eine andere Ansicht als die der Tradition. Sie kann nicht Von Lucas, dem Reisebegleiter des Paulus, verfaßt sein, wenn auch dessen Aufzeichnungen namentlich für die letzte Reise des Apostels benutzt sein mögen, sie kann nur der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehören, derselben Zeit, welche auch in sonstigen Schriftdenkmäler dasselbe katholische Interesse verräth. Aber die historischen Momente, welche sich aus den Briefen des Apostels Paulus gewinnen ließen, wurden zu Waffen nicht blos gegen die Glaubwürdig¬ keit der Apostelgeschichte, sondern auch gegen die Echtheit eines Theiles der paulinischen Briefe selbst. Nur in den vier großen Briefen an die Galater. an die Römer und in den beiden Korintherbricfcn zeigte sich jener Gegensatz in seiner ursprünglichen Schärfe, nur in ihnen schien sich die ganze Kraft und Eigenthümlichkeit des großen Hcidcnapostels auszuprägen, nur sie werden darum für unzweifelhaft echt erklärt. Bereits in abgeschwächter Gestalt erscheinen die paulinischen Gedanken in den Briefen an die Epheser, Kolosser, Philipper, an Philemon und an die Thessalonicher. Die Darstellung ist matt, die Lehre von der Rechtfertigung verflacht, die Absicht mehr auf das Praktische, Erbauliche gestellt. Dabei hat die Anschauung von der Person Christi schon eine bedeu¬ tende Steigerung erfahren, namentlich die Lehre von der Präexistenz, von der kosmischen Bedeutung Christi ist weiter entwickelt. Auch in den mehrfachen Beziehungen auf die Sekten des zweiten Jahrhunderts und in dem hervor¬ tretenden Streben nach Einheit in Lehre und Verfassung verräth sich die spä¬ tere Absassungszeit. Noch bestimmter treten alle diese Merkmale bei den sogenannten Hirtenbriefen (den Briefen an Timotheus und Titus) auf. Sie setzen kirchliche Einrichtungen voraus, wie sie erst spät sich entwickelt haben und führen eine Polemik gegen Irrlehrer, welche ohne Frage die Gnostiker/ religivnsphilosvphische Sekten des zweiten Jahrhunderts, sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/146>, abgerufen am 23.07.2024.