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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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ihre Thatsächlichkeit in !Zweifel gezogen wurde, nichts von ihrer Bedeutung
für das religiöse Gemüth, ebenso wie die idealen Grundwahrheiten der christ¬
lichen Religion unberührt blieben von der Realität äußerlicher Vorgänge,
Wurden einzelnen Schriften des Kanons die Namen abgesprochen, welche sie
an der Stirne trugen, so fanden sie dafür in der Entwickelung der christlichen
Literatur erst ihre geschichtliche Stelle. Konnte das überlieferte Bild von den
ältesten Zeiten des Christenthums, die man sich so gern als einträchtiges Zu¬
sammenhalten der Gemeinde und mit der darmlosen Ausprägung des religiösen
Ideals ausgefüllt vorstellte, vor der historischen Kritik nicht bestehen, so hatte
man zwar Streit und Gegensat, bis in die erste Jerusalemgemeinde hinauf;
aber wo Streit ist, ist auch Leben, das älteste Christenthum erschien nun in
seinen inneren Motiven, Interessen, Wandlungen aufgedeckt: die unklare Vor¬
stellung wurde zum lebendigen Geschichtsbild.

Durch diese kritische Arbeit hat die theologische Wissenschaft eine große Ver¬
änderung erlitten. Bedeutender noch werden die Wirkungen auf das allgemeine
Bewußtsein, zunächst in den gebildeten Kreisen sein. Oder wollte man den ver¬
geblichen Versuch machen, das Publicum gegen die verderblichen Einflüsse der
Kritik durch Quarantänemaßrcgeln zu schützen? Man hat allerdings die pro¬
phylaktische Weisheit des Hauptpastors Götze, welcher den Kritikern zwar nicht
das Schreiben verbieten wollte, aber zurief: "Schreibt lateinisch, ihr Herrn!
Schreibt lateinisch! Ja wer fleißiger in den Classen gewesen wäre!" -- auch
noch in unserm Jahrhundert wiederholt, und Strauß hat noch einmal auf den¬
selben Borwurf antworten müssen, der Lessing gemacht wurde, Allein man wird
nicht im Ernst wieder in die Fußtapfen des würdigen Hauptpastors zurücktreten
wollen. Der Anknüpfungspunkte, welche derzeit zwischen der theologischen
Wissenschaft und dem Bewußtsein und Interesse der Gebildeten bestehen, sind
nicht so viele, daß es wünschenswert!) erscheinen könnte, die wenigen noch künst¬
lich zu zerreißen. Jedenfalls haben die Laien ein Recht darauf, daß ihnen die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über jene die höchsten Gegenstände
berührenden Fragen nicht vorenthalten bleiben. Würde man es versuchen, so
würden dennoch die Zweifel und kritischen Anfechtungen langsam durchsickern,
vielleicht nur in gefährlicherer Form; ja es würde schon durch die bekämpfenden
Stimmen ausreichend dafür gesorgt, daß auch die Zweifel sich verbreiteten, wie
sich an Strauß's Leben Jesu gezeigt hat, das nur für die Gelehrten geschrieben,
ausdrücklich durch seineu wissenschaftlichen Apparat die neugierigen Laien ab¬
schrecken sollte, aber -- Dank dem Ketzergeschrci, welches das Buch vor das
Forum der Unmündigen rief, alsbald einer ungemeinen Popularität sich erfreute
auch da, wo man es nicht verstehen konnte.

Die neueren kritischen Forschungen im Gebiet des Urchristcnthums sind
nun allerdings bis jetzt wenig in das größere Publicum gedrungen, trotzdem


ihre Thatsächlichkeit in !Zweifel gezogen wurde, nichts von ihrer Bedeutung
für das religiöse Gemüth, ebenso wie die idealen Grundwahrheiten der christ¬
lichen Religion unberührt blieben von der Realität äußerlicher Vorgänge,
Wurden einzelnen Schriften des Kanons die Namen abgesprochen, welche sie
an der Stirne trugen, so fanden sie dafür in der Entwickelung der christlichen
Literatur erst ihre geschichtliche Stelle. Konnte das überlieferte Bild von den
ältesten Zeiten des Christenthums, die man sich so gern als einträchtiges Zu¬
sammenhalten der Gemeinde und mit der darmlosen Ausprägung des religiösen
Ideals ausgefüllt vorstellte, vor der historischen Kritik nicht bestehen, so hatte
man zwar Streit und Gegensat, bis in die erste Jerusalemgemeinde hinauf;
aber wo Streit ist, ist auch Leben, das älteste Christenthum erschien nun in
seinen inneren Motiven, Interessen, Wandlungen aufgedeckt: die unklare Vor¬
stellung wurde zum lebendigen Geschichtsbild.

Durch diese kritische Arbeit hat die theologische Wissenschaft eine große Ver¬
änderung erlitten. Bedeutender noch werden die Wirkungen auf das allgemeine
Bewußtsein, zunächst in den gebildeten Kreisen sein. Oder wollte man den ver¬
geblichen Versuch machen, das Publicum gegen die verderblichen Einflüsse der
Kritik durch Quarantänemaßrcgeln zu schützen? Man hat allerdings die pro¬
phylaktische Weisheit des Hauptpastors Götze, welcher den Kritikern zwar nicht
das Schreiben verbieten wollte, aber zurief: „Schreibt lateinisch, ihr Herrn!
Schreibt lateinisch! Ja wer fleißiger in den Classen gewesen wäre!" — auch
noch in unserm Jahrhundert wiederholt, und Strauß hat noch einmal auf den¬
selben Borwurf antworten müssen, der Lessing gemacht wurde, Allein man wird
nicht im Ernst wieder in die Fußtapfen des würdigen Hauptpastors zurücktreten
wollen. Der Anknüpfungspunkte, welche derzeit zwischen der theologischen
Wissenschaft und dem Bewußtsein und Interesse der Gebildeten bestehen, sind
nicht so viele, daß es wünschenswert!) erscheinen könnte, die wenigen noch künst¬
lich zu zerreißen. Jedenfalls haben die Laien ein Recht darauf, daß ihnen die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über jene die höchsten Gegenstände
berührenden Fragen nicht vorenthalten bleiben. Würde man es versuchen, so
würden dennoch die Zweifel und kritischen Anfechtungen langsam durchsickern,
vielleicht nur in gefährlicherer Form; ja es würde schon durch die bekämpfenden
Stimmen ausreichend dafür gesorgt, daß auch die Zweifel sich verbreiteten, wie
sich an Strauß's Leben Jesu gezeigt hat, das nur für die Gelehrten geschrieben,
ausdrücklich durch seineu wissenschaftlichen Apparat die neugierigen Laien ab¬
schrecken sollte, aber — Dank dem Ketzergeschrci, welches das Buch vor das
Forum der Unmündigen rief, alsbald einer ungemeinen Popularität sich erfreute
auch da, wo man es nicht verstehen konnte.

Die neueren kritischen Forschungen im Gebiet des Urchristcnthums sind
nun allerdings bis jetzt wenig in das größere Publicum gedrungen, trotzdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/14>, abgerufen am 23.07.2024.