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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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sinnlichen Ausdruck verlangte. Am besten erschien er da, wo er. sich ganz der
Lust des Schaffens überlassend. in die Weise des Volkslieds einlenkte, und die¬
ser Zug konnte durch das Studium der altdeutschen Sagenkreise, das gleichfalls
dort bereits anklang, nur gewinnen. In der Übersetzung des altfranzösischen
Liedes von Rolands Tod (Stuttgart 1861) und der unter dem Namen der
Maule de France auf uns gekommenen altbretonischen Erzählungen (Stuttgart
1862) zeigte er außer dem lebendigen Eindringen in das Original ein bedeuten¬
des Formgcschick. Leicht und anmuthig flössen dort die Tiraden, hier die
Reimpaare hin. Aber in voller Freiheit konnte sich sein Talent erst entfalten,
wenn er die Fesseln des Originals abschüttelnd, sich in einer freien Nachdichtung
versuchte. So schuf er denn in Hugdietrichs Brautfahrt, mit welcher das
Münchner Dichtcrbuch anhebt, ein reizendes episches Gedicht voll poetischen
Dufts. Das Märchen- und Schwankartige ist besonders gut gelungen. Der
Dichter geht völlig auf im Erzähler, der seine Geschichte in Einem Flusse bis
zum heitern Ende führt. In den Gedichten, die Hertz beigesteuert, ist es gleich¬
falls diese frische naive Redseligkeit, welche besonders anzieht. Es ist, als ob
unsrer mit Reflexion über und über gesättigten Lyrik mit Absicht der reine
Volkston entgegengehalten würde, wenn nicht eben die Absichtslosigkcit dieser
Lieder ihr eigenthümlicher Reiz wäre. Manche Verse lesen sich wie aus einem
alten Volkslied. Es ist ein Wiederaufleben der Romantik, aber ohne jeden
kränklichen Beigeschmack. Es ist jene Romantik, die sich ewig selbst erneut.
Wir lassen uns auch den alten Zwingergraben, das hohe Erkerhaus, aus dem die
Jungfräulein herausschauen, gefallen; denn so unmittelbar weiß uns der Dichter in
die Situationen hineinzuversetzen, daß jenes Beiwerk alles Fremdartige verliert.
Die Versuche, ernstere Probleme mit derselben Leichtigkeit zu behandeln, sind
weniger gelungen. Aber es zeigt sich darin doch das Bestreben, sich nicht in
ein Spiel mit jenen mittelalterlichen Formen zu verlieren. Und diese Gefahr
läge allerdings bei Hertz um so näher, mit je größerer Virtuosität er jene For¬
men 'handhabt.

Auch in Julius Grosses Liedern herrscht eine freudige befriedigte Welt¬
anschauung vor, Aber es ist nicht der erste Frühlingsdrang, der sich in die
Welt stürzt und im Sturm sie erobert, sondern diejenige Befriedigung, die ein
ernster Geist nach überwundenen Zweifel" in einem selbsterkämvftcn Glück em¬
pfindet, in welchem er der vollen Lust des Lebens, aber zugleich seiner Schran¬
ken sich bewußt ist. Noch mehr spricht sich der Ton der Resignation in den
Liedern H. Leutholds aus, den zuerst Geibel als Uebersetzer der neueren fran¬
zösischen Lyrik eingeführt hat. Es ward ihm schwerer, den vollen Ton der
Lenzeslust zu finden. Der Gedanke überwiegt, und auch die fein empfundenen
Bilder aus dem Süden nehmen am Schlüsse stets eine Wendung zur Re¬
flexion.


sinnlichen Ausdruck verlangte. Am besten erschien er da, wo er. sich ganz der
Lust des Schaffens überlassend. in die Weise des Volkslieds einlenkte, und die¬
ser Zug konnte durch das Studium der altdeutschen Sagenkreise, das gleichfalls
dort bereits anklang, nur gewinnen. In der Übersetzung des altfranzösischen
Liedes von Rolands Tod (Stuttgart 1861) und der unter dem Namen der
Maule de France auf uns gekommenen altbretonischen Erzählungen (Stuttgart
1862) zeigte er außer dem lebendigen Eindringen in das Original ein bedeuten¬
des Formgcschick. Leicht und anmuthig flössen dort die Tiraden, hier die
Reimpaare hin. Aber in voller Freiheit konnte sich sein Talent erst entfalten,
wenn er die Fesseln des Originals abschüttelnd, sich in einer freien Nachdichtung
versuchte. So schuf er denn in Hugdietrichs Brautfahrt, mit welcher das
Münchner Dichtcrbuch anhebt, ein reizendes episches Gedicht voll poetischen
Dufts. Das Märchen- und Schwankartige ist besonders gut gelungen. Der
Dichter geht völlig auf im Erzähler, der seine Geschichte in Einem Flusse bis
zum heitern Ende führt. In den Gedichten, die Hertz beigesteuert, ist es gleich¬
falls diese frische naive Redseligkeit, welche besonders anzieht. Es ist, als ob
unsrer mit Reflexion über und über gesättigten Lyrik mit Absicht der reine
Volkston entgegengehalten würde, wenn nicht eben die Absichtslosigkcit dieser
Lieder ihr eigenthümlicher Reiz wäre. Manche Verse lesen sich wie aus einem
alten Volkslied. Es ist ein Wiederaufleben der Romantik, aber ohne jeden
kränklichen Beigeschmack. Es ist jene Romantik, die sich ewig selbst erneut.
Wir lassen uns auch den alten Zwingergraben, das hohe Erkerhaus, aus dem die
Jungfräulein herausschauen, gefallen; denn so unmittelbar weiß uns der Dichter in
die Situationen hineinzuversetzen, daß jenes Beiwerk alles Fremdartige verliert.
Die Versuche, ernstere Probleme mit derselben Leichtigkeit zu behandeln, sind
weniger gelungen. Aber es zeigt sich darin doch das Bestreben, sich nicht in
ein Spiel mit jenen mittelalterlichen Formen zu verlieren. Und diese Gefahr
läge allerdings bei Hertz um so näher, mit je größerer Virtuosität er jene For¬
men 'handhabt.

Auch in Julius Grosses Liedern herrscht eine freudige befriedigte Welt¬
anschauung vor, Aber es ist nicht der erste Frühlingsdrang, der sich in die
Welt stürzt und im Sturm sie erobert, sondern diejenige Befriedigung, die ein
ernster Geist nach überwundenen Zweifel» in einem selbsterkämvftcn Glück em¬
pfindet, in welchem er der vollen Lust des Lebens, aber zugleich seiner Schran¬
ken sich bewußt ist. Noch mehr spricht sich der Ton der Resignation in den
Liedern H. Leutholds aus, den zuerst Geibel als Uebersetzer der neueren fran¬
zösischen Lyrik eingeführt hat. Es ward ihm schwerer, den vollen Ton der
Lenzeslust zu finden. Der Gedanke überwiegt, und auch die fein empfundenen
Bilder aus dem Süden nehmen am Schlüsse stets eine Wendung zur Re¬
flexion.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/56>, abgerufen am 24.07.2024.