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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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unscheinbarste Phänomen ihres Erfahrungskreises als die erstarrte Geberde eines
Menschlichen. Als Charakteristisches aber dieses Geschichtlichmcnschlichen betrach¬
tet sie das Streben, sich zu einer Totalität zu ergänzen, die es von Haus aus
nicht hat oder ist, Vermöge seiner geistig-sinnlichen Natur muß der Mensch sich
ethisch verhalten, d. h. er muß in ein Verhältniß treten zu den sittlichen Ge¬
meinsamkeifen, in denen er erst seine Rechtfertigung findet. Dieser in der
Menschennatur vorgebildeten Daseinszwecke bedient sie sich als der Anschauungs¬
formen bei ihrer Betrachtung; das Maß der Theilnahme und der Mitarbeit an
der Verwirklichung und Entfaltung dieser historischen Ideen gilt ihr als sittliche
Werthbestimmung alles historischen Lebens.

Aus dieser flüchtigen Skizze der Problemstellung wird wenigstens so viel
ersichtlich sein, daß es Droysen nicht darum zu thun ist, eine "neue Wissen¬
schaft" zu etabliren, wie allerdings die früheren Ansätze solcher Selbstbetrachtung
der Geschichtsforschung genannt worden sind, sondern er will zunächst, daß wie¬
der Ernst gemacht werde mit dem eigentlichen Sinne des uralten Wissenschafts¬
kanons, welcher zwischen Logik und Physik die Ethik hinstellt. Durch die Art
und Weise, wie Droysens theoretische Arbeit sich dieser Aufgabe unterzieht,
wird das, was man die Philosophie der Geschichte nennt, wieder zu Ehren
gebracht. Namentlich abgestoßen von dem rein erkenntnißtheoretischen Interesse
Hegels ist unsere moderne Geschichtsbetrachtung mehr und mehr dem Fehler
nahe gerückt, ins andere Extrem zu gerathen. Das Interesse an der Eigent¬
lichkeit der historischen Dinge d. h. an demjenigen, was man fälschlich als das
"wahre Leben" in ihnen bezeichnet, überwog das andre tiefere, sie in ihrer
Allgemeinheit und in ihrem Verhältnisse zum Großen und Ganzen der Mensch¬
heitgeschichte zu wissen und zu verstehn. Dies eben ist es, was vor Anderen
Droysen neu belebt und zugleich in die richtige Bahn gelenkt hat, indem er der
logischen Teleologie in der Betrachtung der Geschichte die ethische gegenüber¬
stellt und unsere Theilnahme an den geschichtlichen Problemen auch wissenschaftlich
in eins setzt mit unsern eigensten praktischen Aufgaben. In dem idealen Ver-
laufe der Geschichte, in der Geschichte der Ideen, welche die Menschheit bewegen
und vorwärts treiben, liegt ihr enthülltes Gewissen. Mit ihm uns auseinander¬
zusetzen und dadurch in bewußten Zusammenhang zu treten mit der Geistes¬
und Seelenarbeit der Vergangenheit, ist eine vornehme Forderung, die unser
eigenes Gewissen an uns stellt, dafern wir wirklich selbstbewußt in und mit
unserer Zeit leben.

In diesem eminent praktischen Sinne stellt auch Droysen dem Geschichts-
forscher seine Aufgabe und sucht er die seinige zu lösen. Nicht in der Auf¬
häufung gelehrten Wissens soll er sich Genüge thun; seine höchste Pflicht ist
vielmehr, zum Dolmetscher der Zeiten und Entwickelungsphasen der Menschheit
zu werden und das Wort zu erfüllen, welches den Historiker den nach rückwärts


Grenzboten I. 1864. 64

unscheinbarste Phänomen ihres Erfahrungskreises als die erstarrte Geberde eines
Menschlichen. Als Charakteristisches aber dieses Geschichtlichmcnschlichen betrach¬
tet sie das Streben, sich zu einer Totalität zu ergänzen, die es von Haus aus
nicht hat oder ist, Vermöge seiner geistig-sinnlichen Natur muß der Mensch sich
ethisch verhalten, d. h. er muß in ein Verhältniß treten zu den sittlichen Ge¬
meinsamkeifen, in denen er erst seine Rechtfertigung findet. Dieser in der
Menschennatur vorgebildeten Daseinszwecke bedient sie sich als der Anschauungs¬
formen bei ihrer Betrachtung; das Maß der Theilnahme und der Mitarbeit an
der Verwirklichung und Entfaltung dieser historischen Ideen gilt ihr als sittliche
Werthbestimmung alles historischen Lebens.

Aus dieser flüchtigen Skizze der Problemstellung wird wenigstens so viel
ersichtlich sein, daß es Droysen nicht darum zu thun ist, eine „neue Wissen¬
schaft" zu etabliren, wie allerdings die früheren Ansätze solcher Selbstbetrachtung
der Geschichtsforschung genannt worden sind, sondern er will zunächst, daß wie¬
der Ernst gemacht werde mit dem eigentlichen Sinne des uralten Wissenschafts¬
kanons, welcher zwischen Logik und Physik die Ethik hinstellt. Durch die Art
und Weise, wie Droysens theoretische Arbeit sich dieser Aufgabe unterzieht,
wird das, was man die Philosophie der Geschichte nennt, wieder zu Ehren
gebracht. Namentlich abgestoßen von dem rein erkenntnißtheoretischen Interesse
Hegels ist unsere moderne Geschichtsbetrachtung mehr und mehr dem Fehler
nahe gerückt, ins andere Extrem zu gerathen. Das Interesse an der Eigent¬
lichkeit der historischen Dinge d. h. an demjenigen, was man fälschlich als das
„wahre Leben" in ihnen bezeichnet, überwog das andre tiefere, sie in ihrer
Allgemeinheit und in ihrem Verhältnisse zum Großen und Ganzen der Mensch¬
heitgeschichte zu wissen und zu verstehn. Dies eben ist es, was vor Anderen
Droysen neu belebt und zugleich in die richtige Bahn gelenkt hat, indem er der
logischen Teleologie in der Betrachtung der Geschichte die ethische gegenüber¬
stellt und unsere Theilnahme an den geschichtlichen Problemen auch wissenschaftlich
in eins setzt mit unsern eigensten praktischen Aufgaben. In dem idealen Ver-
laufe der Geschichte, in der Geschichte der Ideen, welche die Menschheit bewegen
und vorwärts treiben, liegt ihr enthülltes Gewissen. Mit ihm uns auseinander¬
zusetzen und dadurch in bewußten Zusammenhang zu treten mit der Geistes¬
und Seelenarbeit der Vergangenheit, ist eine vornehme Forderung, die unser
eigenes Gewissen an uns stellt, dafern wir wirklich selbstbewußt in und mit
unserer Zeit leben.

In diesem eminent praktischen Sinne stellt auch Droysen dem Geschichts-
forscher seine Aufgabe und sucht er die seinige zu lösen. Nicht in der Auf¬
häufung gelehrten Wissens soll er sich Genüge thun; seine höchste Pflicht ist
vielmehr, zum Dolmetscher der Zeiten und Entwickelungsphasen der Menschheit
zu werden und das Wort zu erfüllen, welches den Historiker den nach rückwärts


Grenzboten I. 1864. 64
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[0511] unscheinbarste Phänomen ihres Erfahrungskreises als die erstarrte Geberde eines Menschlichen. Als Charakteristisches aber dieses Geschichtlichmcnschlichen betrach¬ tet sie das Streben, sich zu einer Totalität zu ergänzen, die es von Haus aus nicht hat oder ist, Vermöge seiner geistig-sinnlichen Natur muß der Mensch sich ethisch verhalten, d. h. er muß in ein Verhältniß treten zu den sittlichen Ge¬ meinsamkeifen, in denen er erst seine Rechtfertigung findet. Dieser in der Menschennatur vorgebildeten Daseinszwecke bedient sie sich als der Anschauungs¬ formen bei ihrer Betrachtung; das Maß der Theilnahme und der Mitarbeit an der Verwirklichung und Entfaltung dieser historischen Ideen gilt ihr als sittliche Werthbestimmung alles historischen Lebens. Aus dieser flüchtigen Skizze der Problemstellung wird wenigstens so viel ersichtlich sein, daß es Droysen nicht darum zu thun ist, eine „neue Wissen¬ schaft" zu etabliren, wie allerdings die früheren Ansätze solcher Selbstbetrachtung der Geschichtsforschung genannt worden sind, sondern er will zunächst, daß wie¬ der Ernst gemacht werde mit dem eigentlichen Sinne des uralten Wissenschafts¬ kanons, welcher zwischen Logik und Physik die Ethik hinstellt. Durch die Art und Weise, wie Droysens theoretische Arbeit sich dieser Aufgabe unterzieht, wird das, was man die Philosophie der Geschichte nennt, wieder zu Ehren gebracht. Namentlich abgestoßen von dem rein erkenntnißtheoretischen Interesse Hegels ist unsere moderne Geschichtsbetrachtung mehr und mehr dem Fehler nahe gerückt, ins andere Extrem zu gerathen. Das Interesse an der Eigent¬ lichkeit der historischen Dinge d. h. an demjenigen, was man fälschlich als das „wahre Leben" in ihnen bezeichnet, überwog das andre tiefere, sie in ihrer Allgemeinheit und in ihrem Verhältnisse zum Großen und Ganzen der Mensch¬ heitgeschichte zu wissen und zu verstehn. Dies eben ist es, was vor Anderen Droysen neu belebt und zugleich in die richtige Bahn gelenkt hat, indem er der logischen Teleologie in der Betrachtung der Geschichte die ethische gegenüber¬ stellt und unsere Theilnahme an den geschichtlichen Problemen auch wissenschaftlich in eins setzt mit unsern eigensten praktischen Aufgaben. In dem idealen Ver- laufe der Geschichte, in der Geschichte der Ideen, welche die Menschheit bewegen und vorwärts treiben, liegt ihr enthülltes Gewissen. Mit ihm uns auseinander¬ zusetzen und dadurch in bewußten Zusammenhang zu treten mit der Geistes¬ und Seelenarbeit der Vergangenheit, ist eine vornehme Forderung, die unser eigenes Gewissen an uns stellt, dafern wir wirklich selbstbewußt in und mit unserer Zeit leben. In diesem eminent praktischen Sinne stellt auch Droysen dem Geschichts- forscher seine Aufgabe und sucht er die seinige zu lösen. Nicht in der Auf¬ häufung gelehrten Wissens soll er sich Genüge thun; seine höchste Pflicht ist vielmehr, zum Dolmetscher der Zeiten und Entwickelungsphasen der Menschheit zu werden und das Wort zu erfüllen, welches den Historiker den nach rückwärts Grenzboten I. 1864. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/511>, abgerufen am 24.07.2024.