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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Es verdient daher Anerkennung, daß unser Entwurf die im "abgekürz¬
ten Verfahren", d. h. im Wesentlichen auf die eben geschilderte Weise, zu
erledigenden Sachen auf den Werth bis zu 100 Thlr. beschränkt. Dagegen
erscheint es als kein glücklicher Gedanke, daß Nebenstreitigkeiten (Jncidentpunkte)
nach dem "abgekürzten" Verfahren und auch bei Collegialgerichten in der Regel
vor einem einzelnen Mitgliede erledigt werden sollen. Ferner vermißt man die
Vorschrift, daß die Parteien vor allen Dingen vollständig zu hören
seien. Auch braucht nach Paragraph 29 der Einzelrichter nicht einmal einen
Protokollführer beizuziehen, und es ist sehr zu fürchten, daß daraus ein Ver¬
fahren entsteht, welches wir in unserm bisherigen Bagatellproceß keines¬
wegs immer von einer vortheilhaften Seite kennen gelernt haben.

Man wird aus Obigem den Eindruck empfangen haben, daß der Entwurf
sich von der hannöverschen Proceßordnung wesentlich, aber in den Hauptpunkten
selten zu seinem Vortheil entfernt. Der Verfasser bemerkt in den Motiven
(S. 242), "so Manches, was vielfach als angemessen gepriesen werde, stelle sich
bei genauerer Betrachtung nur in Ermangelung von etwas Besserem als an¬
nehmlich dar." Meiner Ansicht nach ist es ihm durchaus uicht immer gelungen,
Besseres an die Stelle des Guten zu setzen. Besonders trifft sein Werk der
Vorwurf, daß er in vielen Partien vor übergroßem Streben, dem Bedürfniß
jedes einzelnen Falles gerecht zu werden, allzu complicirt ist; ein Beispiel
habe ich oben angeführt, die große Zahl der "außerordentlichen" Verfcchrungs-
arten. Während die hannöversche Proceßordnung einschließlich des Concurs-
processes 683 Paragraphen enthält, zählt der Entwurf deren II7S und die
Concursordnung noch außerdem 246. Das Unterlassen der anderwärts für
nöthig befundenen Umgestaltung der Gerichtsverfassung überhäuft die Gerichte
mit Arbeit, erschwert den geschäftlichen Verkehr zwischen den Parteien und führt
zu mannigfachen Verzögerungen. Das wichtigste Bedenken aber ist, daß der
Verfasser das von ihm selbst mit Recht so warm empfohlene Princip der
Mündlichkeit unnöthigerweise durchlöchert und es dadurch im
Keime erstickt. Umfassende und wichtige Theile des Processes, bei welchen
sich in anderen Ländern die Mündlichkeit gerade als besonders segensreich be¬
währt hat, fallen hier wieder der Schriftlichkeit anheim; was die eine Hand
gegeben, wird mit der andern wieder genommen. Der Entwurf charakterisirt sich
dadurch als eine halbe Maßregel und es ist meiner Ueberzeugung nach sehr
zu wünschen, daß die Ständekammern, zumal im Hinblick auf den Stand der
Vorarbeiten für eine gemeinsame deutsche Proceßordnung, ihn ablehnen oder
doch nur nach gründlicher Umarbeitung, bei welcher man sich mehr an das
I. G. anderwärts Erprobte anzuschließen hätte, genehmigen.




Es verdient daher Anerkennung, daß unser Entwurf die im „abgekürz¬
ten Verfahren", d. h. im Wesentlichen auf die eben geschilderte Weise, zu
erledigenden Sachen auf den Werth bis zu 100 Thlr. beschränkt. Dagegen
erscheint es als kein glücklicher Gedanke, daß Nebenstreitigkeiten (Jncidentpunkte)
nach dem „abgekürzten" Verfahren und auch bei Collegialgerichten in der Regel
vor einem einzelnen Mitgliede erledigt werden sollen. Ferner vermißt man die
Vorschrift, daß die Parteien vor allen Dingen vollständig zu hören
seien. Auch braucht nach Paragraph 29 der Einzelrichter nicht einmal einen
Protokollführer beizuziehen, und es ist sehr zu fürchten, daß daraus ein Ver¬
fahren entsteht, welches wir in unserm bisherigen Bagatellproceß keines¬
wegs immer von einer vortheilhaften Seite kennen gelernt haben.

Man wird aus Obigem den Eindruck empfangen haben, daß der Entwurf
sich von der hannöverschen Proceßordnung wesentlich, aber in den Hauptpunkten
selten zu seinem Vortheil entfernt. Der Verfasser bemerkt in den Motiven
(S. 242), „so Manches, was vielfach als angemessen gepriesen werde, stelle sich
bei genauerer Betrachtung nur in Ermangelung von etwas Besserem als an¬
nehmlich dar." Meiner Ansicht nach ist es ihm durchaus uicht immer gelungen,
Besseres an die Stelle des Guten zu setzen. Besonders trifft sein Werk der
Vorwurf, daß er in vielen Partien vor übergroßem Streben, dem Bedürfniß
jedes einzelnen Falles gerecht zu werden, allzu complicirt ist; ein Beispiel
habe ich oben angeführt, die große Zahl der „außerordentlichen" Verfcchrungs-
arten. Während die hannöversche Proceßordnung einschließlich des Concurs-
processes 683 Paragraphen enthält, zählt der Entwurf deren II7S und die
Concursordnung noch außerdem 246. Das Unterlassen der anderwärts für
nöthig befundenen Umgestaltung der Gerichtsverfassung überhäuft die Gerichte
mit Arbeit, erschwert den geschäftlichen Verkehr zwischen den Parteien und führt
zu mannigfachen Verzögerungen. Das wichtigste Bedenken aber ist, daß der
Verfasser das von ihm selbst mit Recht so warm empfohlene Princip der
Mündlichkeit unnöthigerweise durchlöchert und es dadurch im
Keime erstickt. Umfassende und wichtige Theile des Processes, bei welchen
sich in anderen Ländern die Mündlichkeit gerade als besonders segensreich be¬
währt hat, fallen hier wieder der Schriftlichkeit anheim; was die eine Hand
gegeben, wird mit der andern wieder genommen. Der Entwurf charakterisirt sich
dadurch als eine halbe Maßregel und es ist meiner Ueberzeugung nach sehr
zu wünschen, daß die Ständekammern, zumal im Hinblick auf den Stand der
Vorarbeiten für eine gemeinsame deutsche Proceßordnung, ihn ablehnen oder
doch nur nach gründlicher Umarbeitung, bei welcher man sich mehr an das
I. G. anderwärts Erprobte anzuschließen hätte, genehmigen.




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[0469] Es verdient daher Anerkennung, daß unser Entwurf die im „abgekürz¬ ten Verfahren", d. h. im Wesentlichen auf die eben geschilderte Weise, zu erledigenden Sachen auf den Werth bis zu 100 Thlr. beschränkt. Dagegen erscheint es als kein glücklicher Gedanke, daß Nebenstreitigkeiten (Jncidentpunkte) nach dem „abgekürzten" Verfahren und auch bei Collegialgerichten in der Regel vor einem einzelnen Mitgliede erledigt werden sollen. Ferner vermißt man die Vorschrift, daß die Parteien vor allen Dingen vollständig zu hören seien. Auch braucht nach Paragraph 29 der Einzelrichter nicht einmal einen Protokollführer beizuziehen, und es ist sehr zu fürchten, daß daraus ein Ver¬ fahren entsteht, welches wir in unserm bisherigen Bagatellproceß keines¬ wegs immer von einer vortheilhaften Seite kennen gelernt haben. Man wird aus Obigem den Eindruck empfangen haben, daß der Entwurf sich von der hannöverschen Proceßordnung wesentlich, aber in den Hauptpunkten selten zu seinem Vortheil entfernt. Der Verfasser bemerkt in den Motiven (S. 242), „so Manches, was vielfach als angemessen gepriesen werde, stelle sich bei genauerer Betrachtung nur in Ermangelung von etwas Besserem als an¬ nehmlich dar." Meiner Ansicht nach ist es ihm durchaus uicht immer gelungen, Besseres an die Stelle des Guten zu setzen. Besonders trifft sein Werk der Vorwurf, daß er in vielen Partien vor übergroßem Streben, dem Bedürfniß jedes einzelnen Falles gerecht zu werden, allzu complicirt ist; ein Beispiel habe ich oben angeführt, die große Zahl der „außerordentlichen" Verfcchrungs- arten. Während die hannöversche Proceßordnung einschließlich des Concurs- processes 683 Paragraphen enthält, zählt der Entwurf deren II7S und die Concursordnung noch außerdem 246. Das Unterlassen der anderwärts für nöthig befundenen Umgestaltung der Gerichtsverfassung überhäuft die Gerichte mit Arbeit, erschwert den geschäftlichen Verkehr zwischen den Parteien und führt zu mannigfachen Verzögerungen. Das wichtigste Bedenken aber ist, daß der Verfasser das von ihm selbst mit Recht so warm empfohlene Princip der Mündlichkeit unnöthigerweise durchlöchert und es dadurch im Keime erstickt. Umfassende und wichtige Theile des Processes, bei welchen sich in anderen Ländern die Mündlichkeit gerade als besonders segensreich be¬ währt hat, fallen hier wieder der Schriftlichkeit anheim; was die eine Hand gegeben, wird mit der andern wieder genommen. Der Entwurf charakterisirt sich dadurch als eine halbe Maßregel und es ist meiner Ueberzeugung nach sehr zu wünschen, daß die Ständekammern, zumal im Hinblick auf den Stand der Vorarbeiten für eine gemeinsame deutsche Proceßordnung, ihn ablehnen oder doch nur nach gründlicher Umarbeitung, bei welcher man sich mehr an das I. G. anderwärts Erprobte anzuschließen hätte, genehmigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/469>, abgerufen am 24.07.2024.