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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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züglichste, der deutschen Prvceßordnung zu Grunde gelegt werden soll. Es
mußte daher als selbstverständlich betrachtet werden, daß der gegenwärtige Ent¬
wurf sich ebenfalls der hannoverschen Gesetzgebung anschließen und daß man
Abweichungen nur da eintreten lassen würde, wo sie durch besondere Gründe
geboten schienen.

Der hannöversche Proceß basirt sich im Anschluß an den eoäö Ah proc6-
äurs, welcher mit einigen Abweichungen bekanntlich auch auf dem preußischen
linken Rheinufer, in Baden, der Pfalz u, s. w. gilt, auf den Grundsatz der
Mündlichkeit und Öffentlichkeit. Zu diesem Grundsatz bekennt sich
denn auch der Verfasser unseres Entwurfs in so entschiedener Weise, daß man
von vornherein das beste Korurtheil für denselben gewinnt. "Die lange zwi¬
schen den Rechtsgelehrten verhandelte Streitfrage," sagen die Motiven S. 238 f.,
"ob Mündlichkeit vor dem erkennenden Richter auch im bürgerlichen Processe
den Vorzug vor einer durchgehenden Schriftlichkeit verdient, darf jetzt wohl als
zum Abschlüsse gediehen betrachtet werden. Die Schriftlichkeit, wie sie im seit¬
herigen Processe bestand, verschloß oder trübte wenigstens die Quellen, aus
denen die Wahrheit geschöpft werden konnte. Hatte das Gericht eine eollegiale
Zusammensetzung, so war nicht wohl thunlich, daß behufs der Theilnahme an
der Urthelsfassung jedes Mitglied die Acten besonders las. Es mußte daher
zu dem Auskunftsmittel einer Vortragserstattung geschritten werden. Diese
konnte ihrem Zwecke nur entsprechen, wenn der Vortragerstatter die Acten voll¬
ständig und aufmerksam gelesen, das Vordringen der Parteien wie die Erklä¬
rungen der Zeugen und Sachverständigen ganz im Sinne derselben aufgefaßt,
alles auf die Entscheidung mehr oder weniger Einflußhabende wirklich auf¬
gefunden, alle erhebliche Thatsachen vollständig, in ihrem richtigen, inneren
Zusammenhange klar und lichtvoll vorgetragen und das Gericht das Vorgetra¬
gene ganz so, wie es beabsichtigt worden war, verstanden hatte. Daß diese
Voraussetzungen zu einer richtigen Beurtheilung des Sachverhaltes nicht allemal
zusammentreffen konnten, ist leicht erklärlich. Weniger Bedenken ergriffen aller¬
dings Platz, wenn ein Einzelrichter nach dem Actcninhalte zu entscheiden hatte.
Immer jedoch blieb es für den Einzelrichter wie für Collegialgerichte bei dem
Forschen nach Wahrheit ein großes Hinderniß, daß sie, den Fall ausgenommen,
wo vor ihnen eine protokollarische Instruction der Sache Statt gefunden hatte,
von dem unmittelbaren Verkehre mit den Parteien abgeschnitten, bei unklaren,
unbestimmten, nicht selten absichtlich auf Schrauben gestellten Auslassungen auf
bloßes Muthmaßen verwiesen waren. Das Verlangen des Recht suchenden
Publicums, sich mit seinem Anliegen an den erkennenden Richter unmittelbar
zu wenden, und ihn über alles, was es zur Wahrung seines Rechtes nöthig
hält, mündlich aufzuklären, war daher natürlich und gewiß auch gerecht. Tra¬
gen die Parteien selbst oder durch ihre Sachwalter dem Richter ihre Angele-


züglichste, der deutschen Prvceßordnung zu Grunde gelegt werden soll. Es
mußte daher als selbstverständlich betrachtet werden, daß der gegenwärtige Ent¬
wurf sich ebenfalls der hannoverschen Gesetzgebung anschließen und daß man
Abweichungen nur da eintreten lassen würde, wo sie durch besondere Gründe
geboten schienen.

Der hannöversche Proceß basirt sich im Anschluß an den eoäö Ah proc6-
äurs, welcher mit einigen Abweichungen bekanntlich auch auf dem preußischen
linken Rheinufer, in Baden, der Pfalz u, s. w. gilt, auf den Grundsatz der
Mündlichkeit und Öffentlichkeit. Zu diesem Grundsatz bekennt sich
denn auch der Verfasser unseres Entwurfs in so entschiedener Weise, daß man
von vornherein das beste Korurtheil für denselben gewinnt. „Die lange zwi¬
schen den Rechtsgelehrten verhandelte Streitfrage," sagen die Motiven S. 238 f.,
„ob Mündlichkeit vor dem erkennenden Richter auch im bürgerlichen Processe
den Vorzug vor einer durchgehenden Schriftlichkeit verdient, darf jetzt wohl als
zum Abschlüsse gediehen betrachtet werden. Die Schriftlichkeit, wie sie im seit¬
herigen Processe bestand, verschloß oder trübte wenigstens die Quellen, aus
denen die Wahrheit geschöpft werden konnte. Hatte das Gericht eine eollegiale
Zusammensetzung, so war nicht wohl thunlich, daß behufs der Theilnahme an
der Urthelsfassung jedes Mitglied die Acten besonders las. Es mußte daher
zu dem Auskunftsmittel einer Vortragserstattung geschritten werden. Diese
konnte ihrem Zwecke nur entsprechen, wenn der Vortragerstatter die Acten voll¬
ständig und aufmerksam gelesen, das Vordringen der Parteien wie die Erklä¬
rungen der Zeugen und Sachverständigen ganz im Sinne derselben aufgefaßt,
alles auf die Entscheidung mehr oder weniger Einflußhabende wirklich auf¬
gefunden, alle erhebliche Thatsachen vollständig, in ihrem richtigen, inneren
Zusammenhange klar und lichtvoll vorgetragen und das Gericht das Vorgetra¬
gene ganz so, wie es beabsichtigt worden war, verstanden hatte. Daß diese
Voraussetzungen zu einer richtigen Beurtheilung des Sachverhaltes nicht allemal
zusammentreffen konnten, ist leicht erklärlich. Weniger Bedenken ergriffen aller¬
dings Platz, wenn ein Einzelrichter nach dem Actcninhalte zu entscheiden hatte.
Immer jedoch blieb es für den Einzelrichter wie für Collegialgerichte bei dem
Forschen nach Wahrheit ein großes Hinderniß, daß sie, den Fall ausgenommen,
wo vor ihnen eine protokollarische Instruction der Sache Statt gefunden hatte,
von dem unmittelbaren Verkehre mit den Parteien abgeschnitten, bei unklaren,
unbestimmten, nicht selten absichtlich auf Schrauben gestellten Auslassungen auf
bloßes Muthmaßen verwiesen waren. Das Verlangen des Recht suchenden
Publicums, sich mit seinem Anliegen an den erkennenden Richter unmittelbar
zu wenden, und ihn über alles, was es zur Wahrung seines Rechtes nöthig
hält, mündlich aufzuklären, war daher natürlich und gewiß auch gerecht. Tra¬
gen die Parteien selbst oder durch ihre Sachwalter dem Richter ihre Angele-


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[0456] züglichste, der deutschen Prvceßordnung zu Grunde gelegt werden soll. Es mußte daher als selbstverständlich betrachtet werden, daß der gegenwärtige Ent¬ wurf sich ebenfalls der hannoverschen Gesetzgebung anschließen und daß man Abweichungen nur da eintreten lassen würde, wo sie durch besondere Gründe geboten schienen. Der hannöversche Proceß basirt sich im Anschluß an den eoäö Ah proc6- äurs, welcher mit einigen Abweichungen bekanntlich auch auf dem preußischen linken Rheinufer, in Baden, der Pfalz u, s. w. gilt, auf den Grundsatz der Mündlichkeit und Öffentlichkeit. Zu diesem Grundsatz bekennt sich denn auch der Verfasser unseres Entwurfs in so entschiedener Weise, daß man von vornherein das beste Korurtheil für denselben gewinnt. „Die lange zwi¬ schen den Rechtsgelehrten verhandelte Streitfrage," sagen die Motiven S. 238 f., „ob Mündlichkeit vor dem erkennenden Richter auch im bürgerlichen Processe den Vorzug vor einer durchgehenden Schriftlichkeit verdient, darf jetzt wohl als zum Abschlüsse gediehen betrachtet werden. Die Schriftlichkeit, wie sie im seit¬ herigen Processe bestand, verschloß oder trübte wenigstens die Quellen, aus denen die Wahrheit geschöpft werden konnte. Hatte das Gericht eine eollegiale Zusammensetzung, so war nicht wohl thunlich, daß behufs der Theilnahme an der Urthelsfassung jedes Mitglied die Acten besonders las. Es mußte daher zu dem Auskunftsmittel einer Vortragserstattung geschritten werden. Diese konnte ihrem Zwecke nur entsprechen, wenn der Vortragerstatter die Acten voll¬ ständig und aufmerksam gelesen, das Vordringen der Parteien wie die Erklä¬ rungen der Zeugen und Sachverständigen ganz im Sinne derselben aufgefaßt, alles auf die Entscheidung mehr oder weniger Einflußhabende wirklich auf¬ gefunden, alle erhebliche Thatsachen vollständig, in ihrem richtigen, inneren Zusammenhange klar und lichtvoll vorgetragen und das Gericht das Vorgetra¬ gene ganz so, wie es beabsichtigt worden war, verstanden hatte. Daß diese Voraussetzungen zu einer richtigen Beurtheilung des Sachverhaltes nicht allemal zusammentreffen konnten, ist leicht erklärlich. Weniger Bedenken ergriffen aller¬ dings Platz, wenn ein Einzelrichter nach dem Actcninhalte zu entscheiden hatte. Immer jedoch blieb es für den Einzelrichter wie für Collegialgerichte bei dem Forschen nach Wahrheit ein großes Hinderniß, daß sie, den Fall ausgenommen, wo vor ihnen eine protokollarische Instruction der Sache Statt gefunden hatte, von dem unmittelbaren Verkehre mit den Parteien abgeschnitten, bei unklaren, unbestimmten, nicht selten absichtlich auf Schrauben gestellten Auslassungen auf bloßes Muthmaßen verwiesen waren. Das Verlangen des Recht suchenden Publicums, sich mit seinem Anliegen an den erkennenden Richter unmittelbar zu wenden, und ihn über alles, was es zur Wahrung seines Rechtes nöthig hält, mündlich aufzuklären, war daher natürlich und gewiß auch gerecht. Tra¬ gen die Parteien selbst oder durch ihre Sachwalter dem Richter ihre Angele-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/456>, abgerufen am 24.07.2024.