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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Beispiel von Schiller und Goethe erinnern. Erst neuerdings hat philo¬
logische Genauigkeit und Methode anfangen tonnen, sich etwas um die Werte
unserer großen Dichter zu kümmern, und bis jetzt -- Dank der Gewissenlosig¬
keit derer, welchen Ehre und Pflicht gebieten mühten, alle Sorgfalt auf würdige
Herstellung zu verwenden -- nicht in dem Maße, wie es erforderlich wäre, um
durchgreifende Resultate zu erzielen. Aber schon hat es sich herausgestellt, daß
Abschreiber, Setzer und Correctoren einen viel weitergehenden und tiefer grei¬
fenden Einfluß auf die Gestaltung der landläufig gewordenen Texte gewonnen
haben als man denken sollte, daß nicht allein sinnentstellende Druckfehler, Aus¬
fall von Versen durch Nachlässigkeit stereotyp geworden find, sondern willkür¬
liche Veränderungen unter dem täuschenden Schein angeblicher Verbesserungen
das Ursprüngliche beseitigt haben. Wer sich etwas nähere Einsicht verschafft
hat, über welche Sinnlosigkeiten und Verkehrtheiten auch gebildete Leser hinweg¬
lesen, wie lästig für den aufmerksamen Leser, wenn er anstößt, die Unsicher¬
heit wird, ob er es mit einer wirklichen Schwierigkeit oder mit einem Druck¬
fehler zu thun hat, wie oft er in die Lage kommt, selbst Conjecturalkritik zu
treiben -- denn jede Verbesserung eines Druckfehlers ist eine philologische
Conjectur -- wie fatal die Enttäuschung ist, wenn bekannte, vielleicht lieb¬
gewordene Stellen sich als verfälschte, vom Dichter so nicht herrührende er¬
weisen -- wer sich solche Erfahrungen vergegenwärtigt, wird einverstanden sein,
daß es eine würdige Aufgabe der philologischen Kritik sei. zuverlässige Texte
unserer großen deutschen Schriftsteller herzustellen, deren gelungener Ausführung
der Beifall auch der unphilologischen Leser nicht fehlen wird. Mit den Musi¬
kern steht es nicht anders. Wie mancher Spieler und Hörer ist nicht in Ver¬
legenheit, ob er in einem Accord, einer Passage, einer Note, eine Oulibichefsche
Chimäre anzuerkennen oder einen Druckfehler zu corrigiren hat; wie unangenehm
ist eS sich belehren zu lassen, daß eine ganz besonders ausgesuchte Schönheit
aus einem Stichfehler beruhe, daß eine vermeintlich sichere Verbesserung einer
unerträglichen Härte nur eine Verballhornisirung sei. Daß dergleichen täglich
vorkommt, ist bekannt; daß auch die Ausgaben beethvvenscher Werke durch
Fehler und Schlimmbesserungen zum Zweifeln und Verzweifeln noch viel mehr
Anlaß bieten als man wohl annahm, hat sich bei aufmerksamer Prüfung heraus¬
gestellt. Gewiß ist also die Arbeit dankenswerth. welche es unternimmt, das
vom Componisten Geschriebene in seiner ursprünglichen Reinheit wieder herzu¬
stellen und zuverlässig zu überliefern -- und das ist ja eben die Arbeit der
philologischen Kritik.

Auf die Frage nach der Aufgabe und Methode philologischer
Kritik ist die Antwort einfach. Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬
stellers -- oder Musikers -- welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬
schrift oder Druck, verbreitet und fortgepflanzt und nothwendig durch die wieder-


Beispiel von Schiller und Goethe erinnern. Erst neuerdings hat philo¬
logische Genauigkeit und Methode anfangen tonnen, sich etwas um die Werte
unserer großen Dichter zu kümmern, und bis jetzt — Dank der Gewissenlosig¬
keit derer, welchen Ehre und Pflicht gebieten mühten, alle Sorgfalt auf würdige
Herstellung zu verwenden — nicht in dem Maße, wie es erforderlich wäre, um
durchgreifende Resultate zu erzielen. Aber schon hat es sich herausgestellt, daß
Abschreiber, Setzer und Correctoren einen viel weitergehenden und tiefer grei¬
fenden Einfluß auf die Gestaltung der landläufig gewordenen Texte gewonnen
haben als man denken sollte, daß nicht allein sinnentstellende Druckfehler, Aus¬
fall von Versen durch Nachlässigkeit stereotyp geworden find, sondern willkür¬
liche Veränderungen unter dem täuschenden Schein angeblicher Verbesserungen
das Ursprüngliche beseitigt haben. Wer sich etwas nähere Einsicht verschafft
hat, über welche Sinnlosigkeiten und Verkehrtheiten auch gebildete Leser hinweg¬
lesen, wie lästig für den aufmerksamen Leser, wenn er anstößt, die Unsicher¬
heit wird, ob er es mit einer wirklichen Schwierigkeit oder mit einem Druck¬
fehler zu thun hat, wie oft er in die Lage kommt, selbst Conjecturalkritik zu
treiben — denn jede Verbesserung eines Druckfehlers ist eine philologische
Conjectur — wie fatal die Enttäuschung ist, wenn bekannte, vielleicht lieb¬
gewordene Stellen sich als verfälschte, vom Dichter so nicht herrührende er¬
weisen — wer sich solche Erfahrungen vergegenwärtigt, wird einverstanden sein,
daß es eine würdige Aufgabe der philologischen Kritik sei. zuverlässige Texte
unserer großen deutschen Schriftsteller herzustellen, deren gelungener Ausführung
der Beifall auch der unphilologischen Leser nicht fehlen wird. Mit den Musi¬
kern steht es nicht anders. Wie mancher Spieler und Hörer ist nicht in Ver¬
legenheit, ob er in einem Accord, einer Passage, einer Note, eine Oulibichefsche
Chimäre anzuerkennen oder einen Druckfehler zu corrigiren hat; wie unangenehm
ist eS sich belehren zu lassen, daß eine ganz besonders ausgesuchte Schönheit
aus einem Stichfehler beruhe, daß eine vermeintlich sichere Verbesserung einer
unerträglichen Härte nur eine Verballhornisirung sei. Daß dergleichen täglich
vorkommt, ist bekannt; daß auch die Ausgaben beethvvenscher Werke durch
Fehler und Schlimmbesserungen zum Zweifeln und Verzweifeln noch viel mehr
Anlaß bieten als man wohl annahm, hat sich bei aufmerksamer Prüfung heraus¬
gestellt. Gewiß ist also die Arbeit dankenswerth. welche es unternimmt, das
vom Componisten Geschriebene in seiner ursprünglichen Reinheit wieder herzu¬
stellen und zuverlässig zu überliefern — und das ist ja eben die Arbeit der
philologischen Kritik.

Auf die Frage nach der Aufgabe und Methode philologischer
Kritik ist die Antwort einfach. Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬
stellers — oder Musikers — welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬
schrift oder Druck, verbreitet und fortgepflanzt und nothwendig durch die wieder-


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[0352] Beispiel von Schiller und Goethe erinnern. Erst neuerdings hat philo¬ logische Genauigkeit und Methode anfangen tonnen, sich etwas um die Werte unserer großen Dichter zu kümmern, und bis jetzt — Dank der Gewissenlosig¬ keit derer, welchen Ehre und Pflicht gebieten mühten, alle Sorgfalt auf würdige Herstellung zu verwenden — nicht in dem Maße, wie es erforderlich wäre, um durchgreifende Resultate zu erzielen. Aber schon hat es sich herausgestellt, daß Abschreiber, Setzer und Correctoren einen viel weitergehenden und tiefer grei¬ fenden Einfluß auf die Gestaltung der landläufig gewordenen Texte gewonnen haben als man denken sollte, daß nicht allein sinnentstellende Druckfehler, Aus¬ fall von Versen durch Nachlässigkeit stereotyp geworden find, sondern willkür¬ liche Veränderungen unter dem täuschenden Schein angeblicher Verbesserungen das Ursprüngliche beseitigt haben. Wer sich etwas nähere Einsicht verschafft hat, über welche Sinnlosigkeiten und Verkehrtheiten auch gebildete Leser hinweg¬ lesen, wie lästig für den aufmerksamen Leser, wenn er anstößt, die Unsicher¬ heit wird, ob er es mit einer wirklichen Schwierigkeit oder mit einem Druck¬ fehler zu thun hat, wie oft er in die Lage kommt, selbst Conjecturalkritik zu treiben — denn jede Verbesserung eines Druckfehlers ist eine philologische Conjectur — wie fatal die Enttäuschung ist, wenn bekannte, vielleicht lieb¬ gewordene Stellen sich als verfälschte, vom Dichter so nicht herrührende er¬ weisen — wer sich solche Erfahrungen vergegenwärtigt, wird einverstanden sein, daß es eine würdige Aufgabe der philologischen Kritik sei. zuverlässige Texte unserer großen deutschen Schriftsteller herzustellen, deren gelungener Ausführung der Beifall auch der unphilologischen Leser nicht fehlen wird. Mit den Musi¬ kern steht es nicht anders. Wie mancher Spieler und Hörer ist nicht in Ver¬ legenheit, ob er in einem Accord, einer Passage, einer Note, eine Oulibichefsche Chimäre anzuerkennen oder einen Druckfehler zu corrigiren hat; wie unangenehm ist eS sich belehren zu lassen, daß eine ganz besonders ausgesuchte Schönheit aus einem Stichfehler beruhe, daß eine vermeintlich sichere Verbesserung einer unerträglichen Härte nur eine Verballhornisirung sei. Daß dergleichen täglich vorkommt, ist bekannt; daß auch die Ausgaben beethvvenscher Werke durch Fehler und Schlimmbesserungen zum Zweifeln und Verzweifeln noch viel mehr Anlaß bieten als man wohl annahm, hat sich bei aufmerksamer Prüfung heraus¬ gestellt. Gewiß ist also die Arbeit dankenswerth. welche es unternimmt, das vom Componisten Geschriebene in seiner ursprünglichen Reinheit wieder herzu¬ stellen und zuverlässig zu überliefern — und das ist ja eben die Arbeit der philologischen Kritik. Auf die Frage nach der Aufgabe und Methode philologischer Kritik ist die Antwort einfach. Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬ stellers — oder Musikers — welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬ schrift oder Druck, verbreitet und fortgepflanzt und nothwendig durch die wieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/352>, abgerufen am 29.06.2024.