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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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etwa diese in seinem Shakespeare aufmerksam nachliest und dann beim Anhören
des Adagio sich zu vergegenwärtigen sucht, wird der sich den wahren Genuß
des Musikstücks erhöhen oder stören? Nach Czernys, von Anderen bestätigten,
Bericht hatte Beethoven gesagt, das Adagio des L-moll-Ouartetts (0p. 89, 2)
sei ihm beim Anblick des gestirnten Himmels aufgegangen; man will wissen
daß ihm, nachdem er lange im Freien im Finstern gesessen, von allen Seiten
aufglitzcrnde Lichter das Motiv zum Scherzo der ä-moll-Symphonie, ein
vorübcrgaloppirendcr Reiter das Thema zum letzten Satz der Sonate in
ä-moll (0p. 31, 2), das ungeduldige Klopfen eines in später Nacht vergeblich
Einlaß Begehrenden das Motiv im ersten Satze des Violinconcerts eingegeben
habe. Möglich, daß ein prägnanter sinnlicher Eindruck im günstigen Moment
blitzartig ein charakteristisches Motiv hervorrief, möglich auch, daß der Eindruck
im Gedächtniß des Künstlers haftete; aber mit der künstlerischen Entwickelung
dieses Keims, mit der schöpferischen Organisation des Kunstwerks hat diese
äußerliche Anregung nichts mehr zu thun, die Thätigkeit des Künstlers bewegt
sich in ganz anderen Regionen und wer da glaubt, von dem zufälligen äußeren
Anlasse aus lasse sich das Kunstwerk construiren, der hat keine Ahnung vom
künstlerischen Schaffen. Sollte z. B. jemand auf den Einfall kommen, den
ersten Satz des Vivlinconcerts nach seiner psychologischen Entwickelung und
äußerlichen Gliederung aus jener Situation des nächtlichen Klopfers abzuleiten
und zu erklären, so möge man ihn in Gottes Namen klopfen lassen: die
Thür des rechten Verständnisses wird ihm nicht aufgethan werden.

Überschriften und Notizen, auch authentische, von Beethoven selbst her¬
rührende, würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunstwerks nicht
wesentlich gefördert haben, -- das darf man sagen, ohne dem Interesse zu nahe
zu treten, welches sie durch manche persönliche Aufklärung gehabt hätten; es
ist vielmehr zu fürchten, daß sie ebensowohl Mißverständnisse und Verkehrt¬
heiten hervorrufen würden, wie die, welche Beethoven veröffentlicht hat. Die
schöne Sonate in "s-aur (0p. 81) trägt bekanntlich die Überschriften I^s
g,äieux, l'-rlZL<zire<Z, Jo retour und wird daher als zuverlässiges Beispiel von
Programmmusik mit Sicherheit interpretirt. "Daß es Momente aus dem
Leben eines liebenden Paares sind, setzt man schon voraus," -- sagt Marx,
der es dahingestellt sein läßt, ob die Liebenden verheirathet sind oder nicht
-- "aber die Composition bringt auch den Beweis." -- "Die Liebenden
öffnen ihre Arme wie Zugvögel ihre Flügel," sagt Lenz vom Schluß der
Sonate. Nun hat Beethoven aus das Original der ersten Abtheilung ge¬
schrieben:

Das Lebew ohl bei der Abreise Sr. kais. Hoheit des Erzherzogs
Rud vis den 4. Mai 1809

und aus den Titel der zweiten:


Grenzboten I. 1864. 39

etwa diese in seinem Shakespeare aufmerksam nachliest und dann beim Anhören
des Adagio sich zu vergegenwärtigen sucht, wird der sich den wahren Genuß
des Musikstücks erhöhen oder stören? Nach Czernys, von Anderen bestätigten,
Bericht hatte Beethoven gesagt, das Adagio des L-moll-Ouartetts (0p. 89, 2)
sei ihm beim Anblick des gestirnten Himmels aufgegangen; man will wissen
daß ihm, nachdem er lange im Freien im Finstern gesessen, von allen Seiten
aufglitzcrnde Lichter das Motiv zum Scherzo der ä-moll-Symphonie, ein
vorübcrgaloppirendcr Reiter das Thema zum letzten Satz der Sonate in
ä-moll (0p. 31, 2), das ungeduldige Klopfen eines in später Nacht vergeblich
Einlaß Begehrenden das Motiv im ersten Satze des Violinconcerts eingegeben
habe. Möglich, daß ein prägnanter sinnlicher Eindruck im günstigen Moment
blitzartig ein charakteristisches Motiv hervorrief, möglich auch, daß der Eindruck
im Gedächtniß des Künstlers haftete; aber mit der künstlerischen Entwickelung
dieses Keims, mit der schöpferischen Organisation des Kunstwerks hat diese
äußerliche Anregung nichts mehr zu thun, die Thätigkeit des Künstlers bewegt
sich in ganz anderen Regionen und wer da glaubt, von dem zufälligen äußeren
Anlasse aus lasse sich das Kunstwerk construiren, der hat keine Ahnung vom
künstlerischen Schaffen. Sollte z. B. jemand auf den Einfall kommen, den
ersten Satz des Vivlinconcerts nach seiner psychologischen Entwickelung und
äußerlichen Gliederung aus jener Situation des nächtlichen Klopfers abzuleiten
und zu erklären, so möge man ihn in Gottes Namen klopfen lassen: die
Thür des rechten Verständnisses wird ihm nicht aufgethan werden.

Überschriften und Notizen, auch authentische, von Beethoven selbst her¬
rührende, würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunstwerks nicht
wesentlich gefördert haben, — das darf man sagen, ohne dem Interesse zu nahe
zu treten, welches sie durch manche persönliche Aufklärung gehabt hätten; es
ist vielmehr zu fürchten, daß sie ebensowohl Mißverständnisse und Verkehrt¬
heiten hervorrufen würden, wie die, welche Beethoven veröffentlicht hat. Die
schöne Sonate in «s-aur (0p. 81) trägt bekanntlich die Überschriften I^s
g,äieux, l'-rlZL<zire<Z, Jo retour und wird daher als zuverlässiges Beispiel von
Programmmusik mit Sicherheit interpretirt. „Daß es Momente aus dem
Leben eines liebenden Paares sind, setzt man schon voraus," — sagt Marx,
der es dahingestellt sein läßt, ob die Liebenden verheirathet sind oder nicht
— „aber die Composition bringt auch den Beweis." — „Die Liebenden
öffnen ihre Arme wie Zugvögel ihre Flügel," sagt Lenz vom Schluß der
Sonate. Nun hat Beethoven aus das Original der ersten Abtheilung ge¬
schrieben:

Das Lebew ohl bei der Abreise Sr. kais. Hoheit des Erzherzogs
Rud vis den 4. Mai 1809

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/311>, abgerufen am 24.07.2024.