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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Gesinde! schließt den Act. Mit der siebenten Scene des dritten Auszugs be>
girrt bei Dingelstedt dieser Act erst, und, wenn ich nicht irre, schließt sich daran
gleich die andere Scene, in welcher die französischen Heerführer auftreten. Die
Scene, in welcher König Heinrich unerkannt durch das Lager geht, ist aus dem
Anfang des vierten Acts in den dritten verseht und die Rede des Chorus theil¬
weise dem König in den Mund gelegt, aber auch eine große Menge hinzu¬
gefügt. Das Arrangement für diese Lagerscene war vortrefflich: im Vorder¬
grund Zelt, der Hintergrund hügeliges Land mit Lagerfeuern. Ebensolches Lob
verdient der Anfang des vierten Auszugs: im Hintergrund die brennende Stadt,
im Nordergrund die französischen Anführer in Verzweiflung über die Flucht der
Ihrigen und den Verlust des Tages. Fluellcn, dem übrigens seine schönen Re¬
den von Cäsar zu sehr beschnitten sind, wird in die Handschuhgeschichte nicht
verwickelt: dagegen ist eine scherzhafte Anspielung des Königs auf sein Zu¬
sammentreffen mit Fluellcn in der Nacht eingeschaltet, während bei Shakespeare
überhaupt dieses Zusammentreffen nicht zwischen Fluellen und dem König, son¬
dern zwischen ersterem und Gower stattfindet. Doch genug der einzelnen An¬
führungen, die nur den Zweck haben, eine Vorstellung davon zu geben, mit
welcher Kühnheit und Unbefangenheit auch hier Dingelstedt zu Werke gegangen ist.

Soll ich aber schließlich noch ein Wort über den Eindruck, welchen dieses
meines Wissens jetzt zum ersten Male in Deutschland aufgeführte Drama auf
mich gemacht hat, hinzufügen, so gestehe ich gern, höchst angenehm enttäuscht
worden zu sein. Bei der Lectüre erkennt jedermann leicht, dahin dem Schau¬
spiel die gewaltigsten Dinge geschehen, aber die eigentlich dramatische Ver¬
wicklung liegt in den kriegerischen Ereignissen, und es tritt uns die Befürchtung
nahe, daß trotz der Vervollkommnung der scenischen Hilfsmittel eine Darstellung
dieses dramatischen Schlachtengemäldes um so mehr mißlingen müsse, je weiter
unser heutiges Publicum von der Anspruchslosigkeit und Bereitwilligkeit des
shakespeareschen Zuhörerkreises, der mit der Phantasie die Leere der Balcon-
bühne ergänzte, sich entfernt hat. Diese Furcht, die auch ich hegte, hat sich
als grundlos erwiesen. Das Stück hat seine dramatische Kraft vollkommen be¬
währt und so einen würdigen Schlußstein der uns für diesmal vorgeführten
Tetralogie gebildet. M

Damit schließe ich dieses Referat über eins der wichtigsten dramatischen
Ereignisse der neuern Zeit. Meine Aufzeichnungen sind tagebuchartig unmittel¬
bar nach den einzelnen Vorstellungen gemacht, und ich habe sie nicht ändern
und umgestalten wollen, weil sie vielleicht gerade in ihrer Unmittelbarkeit den
Eindruck dieser bedeutenden Vorstellungen am besten und treuesten wieder¬
spiegeln. Es ist natürlich nicht meine Absicht gewesen, eine Kritik aller der
einzelnen Schauspieler, welche in diesen Stücken mitwirkten, zu geben: ich habe
in dieser Beziehung nur Einzelnes hervorgehoben und will nur zum Schluß


Gesinde! schließt den Act. Mit der siebenten Scene des dritten Auszugs be>
girrt bei Dingelstedt dieser Act erst, und, wenn ich nicht irre, schließt sich daran
gleich die andere Scene, in welcher die französischen Heerführer auftreten. Die
Scene, in welcher König Heinrich unerkannt durch das Lager geht, ist aus dem
Anfang des vierten Acts in den dritten verseht und die Rede des Chorus theil¬
weise dem König in den Mund gelegt, aber auch eine große Menge hinzu¬
gefügt. Das Arrangement für diese Lagerscene war vortrefflich: im Vorder¬
grund Zelt, der Hintergrund hügeliges Land mit Lagerfeuern. Ebensolches Lob
verdient der Anfang des vierten Auszugs: im Hintergrund die brennende Stadt,
im Nordergrund die französischen Anführer in Verzweiflung über die Flucht der
Ihrigen und den Verlust des Tages. Fluellcn, dem übrigens seine schönen Re¬
den von Cäsar zu sehr beschnitten sind, wird in die Handschuhgeschichte nicht
verwickelt: dagegen ist eine scherzhafte Anspielung des Königs auf sein Zu¬
sammentreffen mit Fluellcn in der Nacht eingeschaltet, während bei Shakespeare
überhaupt dieses Zusammentreffen nicht zwischen Fluellen und dem König, son¬
dern zwischen ersterem und Gower stattfindet. Doch genug der einzelnen An¬
führungen, die nur den Zweck haben, eine Vorstellung davon zu geben, mit
welcher Kühnheit und Unbefangenheit auch hier Dingelstedt zu Werke gegangen ist.

Soll ich aber schließlich noch ein Wort über den Eindruck, welchen dieses
meines Wissens jetzt zum ersten Male in Deutschland aufgeführte Drama auf
mich gemacht hat, hinzufügen, so gestehe ich gern, höchst angenehm enttäuscht
worden zu sein. Bei der Lectüre erkennt jedermann leicht, dahin dem Schau¬
spiel die gewaltigsten Dinge geschehen, aber die eigentlich dramatische Ver¬
wicklung liegt in den kriegerischen Ereignissen, und es tritt uns die Befürchtung
nahe, daß trotz der Vervollkommnung der scenischen Hilfsmittel eine Darstellung
dieses dramatischen Schlachtengemäldes um so mehr mißlingen müsse, je weiter
unser heutiges Publicum von der Anspruchslosigkeit und Bereitwilligkeit des
shakespeareschen Zuhörerkreises, der mit der Phantasie die Leere der Balcon-
bühne ergänzte, sich entfernt hat. Diese Furcht, die auch ich hegte, hat sich
als grundlos erwiesen. Das Stück hat seine dramatische Kraft vollkommen be¬
währt und so einen würdigen Schlußstein der uns für diesmal vorgeführten
Tetralogie gebildet. M

Damit schließe ich dieses Referat über eins der wichtigsten dramatischen
Ereignisse der neuern Zeit. Meine Aufzeichnungen sind tagebuchartig unmittel¬
bar nach den einzelnen Vorstellungen gemacht, und ich habe sie nicht ändern
und umgestalten wollen, weil sie vielleicht gerade in ihrer Unmittelbarkeit den
Eindruck dieser bedeutenden Vorstellungen am besten und treuesten wieder¬
spiegeln. Es ist natürlich nicht meine Absicht gewesen, eine Kritik aller der
einzelnen Schauspieler, welche in diesen Stücken mitwirkten, zu geben: ich habe
in dieser Beziehung nur Einzelnes hervorgehoben und will nur zum Schluß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/111>, abgerufen am 24.07.2024.