Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nungen. Um indeß von vornherein Mißverständnisse abzuschneiden, bemerken
wir gleich hier, daß wir die Meinung, welche das Turnen wie eine Kunst hö¬
herer Ordnung um seiner selbst willen betrieben und gefördert sehen will, nicht
theilen, daß wir überhaupt manche Erwartungen von seiner Wirkung für über¬
trieben halten, und daß wir namentlich die Ansicht, welche in ihm ein Erziehungs¬
mittel für den Liberalismus erblickt, als eine irrthümliche betrachten. Es scheint
uns nicht von Bedeutung für den Werth eines Mannes, ob er die Riesenwelle
correct auszuführen versteht oder nicht. Wir geben zwar bereitwillig zu, daß dem
deutschen Städter eine Kräftigung, dem deutschen Landvolk größere Gewandt¬
heit und Gelenkigkeit noththut, und wir leugnen nicht, daß das Turnen, indem
es diese Eigenschaften mittheilt, den physischen Muth steigert. Es ist aber gegen
die Erfahrung, zu behaupten, daß in einem starken Leibe nothwendig und unter
allen Umständen auch ein starker Wille wohnen müsse. Und was die directe
Wirkung von Reck und Barren auf den politischen Sinn betrifft, so sehe man
sich das Königreich Sachsen an. Man wird in turnerischer Beziehung ein
Musterland, in Betreff politischer Bildung und Strcvsamkeit dagegen nahezu
das absolute Zcro, die kläglichste Schlaffheit und Verkommenheit vor sich haben.

Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, daß die Turnkunst indirect, vor¬
bereitend, auf eine bessere Gestaltung des politischen Zustandes der Nation
wirkt. Zunächst dadurch, daß es die Massen discipliniren hilft. Norddeutschen
Wesen entsprossen, theilt es, in rechter Weise und mit Fleiß und Ausdauer
geübt, jedem mehr oder minder etwas von jener Strammheit und Strenge mit,
welche, in Norddeutschland vorzüglich zu Hause, in Preußen durch die allge¬
meine Wehrpflicht gehoben und ausgebildet, im deutschen Volkskörper wie das
Knochenwerk im individuellen Organismus functionirt. Dann ist es die beste
Vorschule für die Zeit, wo an eine gründliche Umgestaltung unsrer militä¬
rischen Verhältnisse Hand angelegt werden kann. Endlich aber wird es im Ver¬
ein mit andern frisch und fröhlich betriebenen Künsten der Gegenwart jene
seit lange verloren gegangenen Gelegenheiten zurückführen, bei welchen das Volk
in glänzenden Spielen sich seiner eigenen Kraftfülle und Streitbarkeit in freu¬
diger Begeisterung bewußt wurde.

Das Turnen kann nicht Telbstzweck sein, wie eine gewisse Schule,
die sich bisher als die orthodoxe ansah, behauptet. Dagegen wird es uns,
überall im Vaterlande zu der ihm gebührenden Geltung gelangt, treffliches
Material zu gewandten und raschen, straffen und jeder Strapatze trotzenden
Kriegsleuten schaffen. Es wird, wofern der im Schützenbund gelegte Keim,
von Volk und Regierungen mehr als bisher unterstützt, sich besser entfaltet, im
Verein mit diesem der Frage, ob zwei oder drei Jahre Dienst bei der Fahne,
sehr viel von ihrer Wichtigkeit nehmen; denn ein Rekrut, der als tüchtiger Tur¬
ner und geübter Schütz in das Heer tritt, wird sicher keine drei, vielleicht keine


nungen. Um indeß von vornherein Mißverständnisse abzuschneiden, bemerken
wir gleich hier, daß wir die Meinung, welche das Turnen wie eine Kunst hö¬
herer Ordnung um seiner selbst willen betrieben und gefördert sehen will, nicht
theilen, daß wir überhaupt manche Erwartungen von seiner Wirkung für über¬
trieben halten, und daß wir namentlich die Ansicht, welche in ihm ein Erziehungs¬
mittel für den Liberalismus erblickt, als eine irrthümliche betrachten. Es scheint
uns nicht von Bedeutung für den Werth eines Mannes, ob er die Riesenwelle
correct auszuführen versteht oder nicht. Wir geben zwar bereitwillig zu, daß dem
deutschen Städter eine Kräftigung, dem deutschen Landvolk größere Gewandt¬
heit und Gelenkigkeit noththut, und wir leugnen nicht, daß das Turnen, indem
es diese Eigenschaften mittheilt, den physischen Muth steigert. Es ist aber gegen
die Erfahrung, zu behaupten, daß in einem starken Leibe nothwendig und unter
allen Umständen auch ein starker Wille wohnen müsse. Und was die directe
Wirkung von Reck und Barren auf den politischen Sinn betrifft, so sehe man
sich das Königreich Sachsen an. Man wird in turnerischer Beziehung ein
Musterland, in Betreff politischer Bildung und Strcvsamkeit dagegen nahezu
das absolute Zcro, die kläglichste Schlaffheit und Verkommenheit vor sich haben.

Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, daß die Turnkunst indirect, vor¬
bereitend, auf eine bessere Gestaltung des politischen Zustandes der Nation
wirkt. Zunächst dadurch, daß es die Massen discipliniren hilft. Norddeutschen
Wesen entsprossen, theilt es, in rechter Weise und mit Fleiß und Ausdauer
geübt, jedem mehr oder minder etwas von jener Strammheit und Strenge mit,
welche, in Norddeutschland vorzüglich zu Hause, in Preußen durch die allge¬
meine Wehrpflicht gehoben und ausgebildet, im deutschen Volkskörper wie das
Knochenwerk im individuellen Organismus functionirt. Dann ist es die beste
Vorschule für die Zeit, wo an eine gründliche Umgestaltung unsrer militä¬
rischen Verhältnisse Hand angelegt werden kann. Endlich aber wird es im Ver¬
ein mit andern frisch und fröhlich betriebenen Künsten der Gegenwart jene
seit lange verloren gegangenen Gelegenheiten zurückführen, bei welchen das Volk
in glänzenden Spielen sich seiner eigenen Kraftfülle und Streitbarkeit in freu¬
diger Begeisterung bewußt wurde.

Das Turnen kann nicht Telbstzweck sein, wie eine gewisse Schule,
die sich bisher als die orthodoxe ansah, behauptet. Dagegen wird es uns,
überall im Vaterlande zu der ihm gebührenden Geltung gelangt, treffliches
Material zu gewandten und raschen, straffen und jeder Strapatze trotzenden
Kriegsleuten schaffen. Es wird, wofern der im Schützenbund gelegte Keim,
von Volk und Regierungen mehr als bisher unterstützt, sich besser entfaltet, im
Verein mit diesem der Frage, ob zwei oder drei Jahre Dienst bei der Fahne,
sehr viel von ihrer Wichtigkeit nehmen; denn ein Rekrut, der als tüchtiger Tur¬
ner und geübter Schütz in das Heer tritt, wird sicher keine drei, vielleicht keine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0457" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188484"/>
          <p xml:id="ID_1442" prev="#ID_1441"> nungen. Um indeß von vornherein Mißverständnisse abzuschneiden, bemerken<lb/>
wir gleich hier, daß wir die Meinung, welche das Turnen wie eine Kunst hö¬<lb/>
herer Ordnung um seiner selbst willen betrieben und gefördert sehen will, nicht<lb/>
theilen, daß wir überhaupt manche Erwartungen von seiner Wirkung für über¬<lb/>
trieben halten, und daß wir namentlich die Ansicht, welche in ihm ein Erziehungs¬<lb/>
mittel für den Liberalismus erblickt, als eine irrthümliche betrachten. Es scheint<lb/>
uns nicht von Bedeutung für den Werth eines Mannes, ob er die Riesenwelle<lb/>
correct auszuführen versteht oder nicht. Wir geben zwar bereitwillig zu, daß dem<lb/>
deutschen Städter eine Kräftigung, dem deutschen Landvolk größere Gewandt¬<lb/>
heit und Gelenkigkeit noththut, und wir leugnen nicht, daß das Turnen, indem<lb/>
es diese Eigenschaften mittheilt, den physischen Muth steigert. Es ist aber gegen<lb/>
die Erfahrung, zu behaupten, daß in einem starken Leibe nothwendig und unter<lb/>
allen Umständen auch ein starker Wille wohnen müsse. Und was die directe<lb/>
Wirkung von Reck und Barren auf den politischen Sinn betrifft, so sehe man<lb/>
sich das Königreich Sachsen an. Man wird in turnerischer Beziehung ein<lb/>
Musterland, in Betreff politischer Bildung und Strcvsamkeit dagegen nahezu<lb/>
das absolute Zcro, die kläglichste Schlaffheit und Verkommenheit vor sich haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1443"> Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, daß die Turnkunst indirect, vor¬<lb/>
bereitend, auf eine bessere Gestaltung des politischen Zustandes der Nation<lb/>
wirkt. Zunächst dadurch, daß es die Massen discipliniren hilft. Norddeutschen<lb/>
Wesen entsprossen, theilt es, in rechter Weise und mit Fleiß und Ausdauer<lb/>
geübt, jedem mehr oder minder etwas von jener Strammheit und Strenge mit,<lb/>
welche, in Norddeutschland vorzüglich zu Hause, in Preußen durch die allge¬<lb/>
meine Wehrpflicht gehoben und ausgebildet, im deutschen Volkskörper wie das<lb/>
Knochenwerk im individuellen Organismus functionirt. Dann ist es die beste<lb/>
Vorschule für die Zeit, wo an eine gründliche Umgestaltung unsrer militä¬<lb/>
rischen Verhältnisse Hand angelegt werden kann. Endlich aber wird es im Ver¬<lb/>
ein mit andern frisch und fröhlich betriebenen Künsten der Gegenwart jene<lb/>
seit lange verloren gegangenen Gelegenheiten zurückführen, bei welchen das Volk<lb/>
in glänzenden Spielen sich seiner eigenen Kraftfülle und Streitbarkeit in freu¬<lb/>
diger Begeisterung bewußt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1444" next="#ID_1445"> Das Turnen kann nicht Telbstzweck sein, wie eine gewisse Schule,<lb/>
die sich bisher als die orthodoxe ansah, behauptet. Dagegen wird es uns,<lb/>
überall im Vaterlande zu der ihm gebührenden Geltung gelangt, treffliches<lb/>
Material zu gewandten und raschen, straffen und jeder Strapatze trotzenden<lb/>
Kriegsleuten schaffen. Es wird, wofern der im Schützenbund gelegte Keim,<lb/>
von Volk und Regierungen mehr als bisher unterstützt, sich besser entfaltet, im<lb/>
Verein mit diesem der Frage, ob zwei oder drei Jahre Dienst bei der Fahne,<lb/>
sehr viel von ihrer Wichtigkeit nehmen; denn ein Rekrut, der als tüchtiger Tur¬<lb/>
ner und geübter Schütz in das Heer tritt, wird sicher keine drei, vielleicht keine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0457] nungen. Um indeß von vornherein Mißverständnisse abzuschneiden, bemerken wir gleich hier, daß wir die Meinung, welche das Turnen wie eine Kunst hö¬ herer Ordnung um seiner selbst willen betrieben und gefördert sehen will, nicht theilen, daß wir überhaupt manche Erwartungen von seiner Wirkung für über¬ trieben halten, und daß wir namentlich die Ansicht, welche in ihm ein Erziehungs¬ mittel für den Liberalismus erblickt, als eine irrthümliche betrachten. Es scheint uns nicht von Bedeutung für den Werth eines Mannes, ob er die Riesenwelle correct auszuführen versteht oder nicht. Wir geben zwar bereitwillig zu, daß dem deutschen Städter eine Kräftigung, dem deutschen Landvolk größere Gewandt¬ heit und Gelenkigkeit noththut, und wir leugnen nicht, daß das Turnen, indem es diese Eigenschaften mittheilt, den physischen Muth steigert. Es ist aber gegen die Erfahrung, zu behaupten, daß in einem starken Leibe nothwendig und unter allen Umständen auch ein starker Wille wohnen müsse. Und was die directe Wirkung von Reck und Barren auf den politischen Sinn betrifft, so sehe man sich das Königreich Sachsen an. Man wird in turnerischer Beziehung ein Musterland, in Betreff politischer Bildung und Strcvsamkeit dagegen nahezu das absolute Zcro, die kläglichste Schlaffheit und Verkommenheit vor sich haben. Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, daß die Turnkunst indirect, vor¬ bereitend, auf eine bessere Gestaltung des politischen Zustandes der Nation wirkt. Zunächst dadurch, daß es die Massen discipliniren hilft. Norddeutschen Wesen entsprossen, theilt es, in rechter Weise und mit Fleiß und Ausdauer geübt, jedem mehr oder minder etwas von jener Strammheit und Strenge mit, welche, in Norddeutschland vorzüglich zu Hause, in Preußen durch die allge¬ meine Wehrpflicht gehoben und ausgebildet, im deutschen Volkskörper wie das Knochenwerk im individuellen Organismus functionirt. Dann ist es die beste Vorschule für die Zeit, wo an eine gründliche Umgestaltung unsrer militä¬ rischen Verhältnisse Hand angelegt werden kann. Endlich aber wird es im Ver¬ ein mit andern frisch und fröhlich betriebenen Künsten der Gegenwart jene seit lange verloren gegangenen Gelegenheiten zurückführen, bei welchen das Volk in glänzenden Spielen sich seiner eigenen Kraftfülle und Streitbarkeit in freu¬ diger Begeisterung bewußt wurde. Das Turnen kann nicht Telbstzweck sein, wie eine gewisse Schule, die sich bisher als die orthodoxe ansah, behauptet. Dagegen wird es uns, überall im Vaterlande zu der ihm gebührenden Geltung gelangt, treffliches Material zu gewandten und raschen, straffen und jeder Strapatze trotzenden Kriegsleuten schaffen. Es wird, wofern der im Schützenbund gelegte Keim, von Volk und Regierungen mehr als bisher unterstützt, sich besser entfaltet, im Verein mit diesem der Frage, ob zwei oder drei Jahre Dienst bei der Fahne, sehr viel von ihrer Wichtigkeit nehmen; denn ein Rekrut, der als tüchtiger Tur¬ ner und geübter Schütz in das Heer tritt, wird sicher keine drei, vielleicht keine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/457
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/457>, abgerufen am 19.10.2024.