Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

europäischen. Mischen den Großmächte zu schlichtenden Frage. Durch die fchles-
wigfche Frage wird Preußens Stellung in dem Zusammenhange der europäi¬
schen Politik bestimmt, demgemäß hat Preußen also auch zu der orientalischen
Frage, als dem Mittelpunkt der europäischen Politik, seine Haltung von der
Rücksicht aus die ihm im Norden der Elbe obliegende Aufgabe leiten zu lassen.

Es mag auffallend erscheinen, daß wir in einem Augenblick, wo Deutschland
von einer ganz anderen Angelegenheit in fieberhafte Spannung und Aufregung
perfekt wird, unsere Blicke auf Schleswig und den Orient richten. Wer indessen
dem Gange der Begebenheiten aufmerksam gefolgt ist, wird in den polnischen
Wirren nur eine Episode, eine gewaltsame Unterbrechung der regelmäßigen
Entwickelung der europäischen Staatcnvcrhältnisse erkennen. Ohne Zweifel ist
die Möglichkeit gegeben, daß diese Episode, die sich um eine Frage von ursprüng¬
lich secundärer Bedeutung dreht, mit der ebenso erschütternden wie unberechen¬
baren Gewalt eines Erdbebens wirkt, daß sie eine völlige Umgestaltung der
Machtverhältnisse herbeiführt und dadurch den Weg für ganz neue politische
Combinationen eröffnet. Indessen sind dies doch eben nur entfernte Möglich¬
keiten, und wir glauben kaum, daß der geniale Herrscher, welcher rastlos be¬
müht scheint, die Bedeutung der Frage nach Möglichkeit zu steigern, selbst
daran denkt, sie zu einer Umgestaltung des Welttheils auszunutzen, eben weil
die natürliche Schwerkraft der Dinge einem derartigen Vorhaben entschieden
widersteht. Es ist ferner der Umstand nicht unbeachtet zu lassen, daß Napo¬
leons Auftreten in dieser Frage zunächst nur ein defensives, durch die Furcht
vor einem Wiedererwachen der östlichen Alliance gebotenes ist, wie denn auch
noch in der gegenwärtigen Phase des Conflictes sein Verhalten gegen Oestreich
mehr aus dem Streben zu erklären ist, diesen Staat von einem Bündniß mit
Rußland und Preußen zurückzuhalten, als denselben zu offensiven Zwecken auf
seine Seite zu ziehen. Die letztere Absicht ist ihm deshalb nicht zuzutrauen,
weil die Aussichten dazu zu gering sind, während ein Bündniß Oestreichs mit
Preußen wahrscheinlich, vielleicht unvermeidlich sein würde, sobald die polnische
Revolution räumlich über die bisher eingehaltenen Grenzen übergriffe, oder wenn
sie ihren Charakter veränderte und jenem kosmopolitisch-nationalen Princip
(der scheinbare Widerspruch des Ausdrucks liegt in der Sache) anheimfiele, das
vor allen anderen Staaten Oestreich in seiner Existenz bedroht.

Indem wir also die Möglichkeit zugeben, daß die polnische Frage zum
Heerde eines den Bestand des europäischen Staatensystems bedrohenden Er¬
schütterungkreises werden könne, halten wir es doch jetzt noch, trotz mancher
bedenklicher Anzeichen, für wahrscheinlicher, daß sie die Schranken diplomatischer
Erörterungen nicht überschreiten werde, und daß, sobald sie zu einem definitiven
oder vorläufigen Abschluß gelangt sein wird, die regelmäßigen Strömungen
des Erdtheils um so kräftiger in ihr Bette zurückkehren und gegen einander


Grenzboten II. 1S63. 48

europäischen. Mischen den Großmächte zu schlichtenden Frage. Durch die fchles-
wigfche Frage wird Preußens Stellung in dem Zusammenhange der europäi¬
schen Politik bestimmt, demgemäß hat Preußen also auch zu der orientalischen
Frage, als dem Mittelpunkt der europäischen Politik, seine Haltung von der
Rücksicht aus die ihm im Norden der Elbe obliegende Aufgabe leiten zu lassen.

Es mag auffallend erscheinen, daß wir in einem Augenblick, wo Deutschland
von einer ganz anderen Angelegenheit in fieberhafte Spannung und Aufregung
perfekt wird, unsere Blicke auf Schleswig und den Orient richten. Wer indessen
dem Gange der Begebenheiten aufmerksam gefolgt ist, wird in den polnischen
Wirren nur eine Episode, eine gewaltsame Unterbrechung der regelmäßigen
Entwickelung der europäischen Staatcnvcrhältnisse erkennen. Ohne Zweifel ist
die Möglichkeit gegeben, daß diese Episode, die sich um eine Frage von ursprüng¬
lich secundärer Bedeutung dreht, mit der ebenso erschütternden wie unberechen¬
baren Gewalt eines Erdbebens wirkt, daß sie eine völlige Umgestaltung der
Machtverhältnisse herbeiführt und dadurch den Weg für ganz neue politische
Combinationen eröffnet. Indessen sind dies doch eben nur entfernte Möglich¬
keiten, und wir glauben kaum, daß der geniale Herrscher, welcher rastlos be¬
müht scheint, die Bedeutung der Frage nach Möglichkeit zu steigern, selbst
daran denkt, sie zu einer Umgestaltung des Welttheils auszunutzen, eben weil
die natürliche Schwerkraft der Dinge einem derartigen Vorhaben entschieden
widersteht. Es ist ferner der Umstand nicht unbeachtet zu lassen, daß Napo¬
leons Auftreten in dieser Frage zunächst nur ein defensives, durch die Furcht
vor einem Wiedererwachen der östlichen Alliance gebotenes ist, wie denn auch
noch in der gegenwärtigen Phase des Conflictes sein Verhalten gegen Oestreich
mehr aus dem Streben zu erklären ist, diesen Staat von einem Bündniß mit
Rußland und Preußen zurückzuhalten, als denselben zu offensiven Zwecken auf
seine Seite zu ziehen. Die letztere Absicht ist ihm deshalb nicht zuzutrauen,
weil die Aussichten dazu zu gering sind, während ein Bündniß Oestreichs mit
Preußen wahrscheinlich, vielleicht unvermeidlich sein würde, sobald die polnische
Revolution räumlich über die bisher eingehaltenen Grenzen übergriffe, oder wenn
sie ihren Charakter veränderte und jenem kosmopolitisch-nationalen Princip
(der scheinbare Widerspruch des Ausdrucks liegt in der Sache) anheimfiele, das
vor allen anderen Staaten Oestreich in seiner Existenz bedroht.

Indem wir also die Möglichkeit zugeben, daß die polnische Frage zum
Heerde eines den Bestand des europäischen Staatensystems bedrohenden Er¬
schütterungkreises werden könne, halten wir es doch jetzt noch, trotz mancher
bedenklicher Anzeichen, für wahrscheinlicher, daß sie die Schranken diplomatischer
Erörterungen nicht überschreiten werde, und daß, sobald sie zu einem definitiven
oder vorläufigen Abschluß gelangt sein wird, die regelmäßigen Strömungen
des Erdtheils um so kräftiger in ihr Bette zurückkehren und gegen einander


Grenzboten II. 1S63. 48
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188408"/>
            <p xml:id="ID_1202" prev="#ID_1201"> europäischen. Mischen den Großmächte zu schlichtenden Frage. Durch die fchles-<lb/>
wigfche Frage wird Preußens Stellung in dem Zusammenhange der europäi¬<lb/>
schen Politik bestimmt, demgemäß hat Preußen also auch zu der orientalischen<lb/>
Frage, als dem Mittelpunkt der europäischen Politik, seine Haltung von der<lb/>
Rücksicht aus die ihm im Norden der Elbe obliegende Aufgabe leiten zu lassen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1203"> Es mag auffallend erscheinen, daß wir in einem Augenblick, wo Deutschland<lb/>
von einer ganz anderen Angelegenheit in fieberhafte Spannung und Aufregung<lb/>
perfekt wird, unsere Blicke auf Schleswig und den Orient richten. Wer indessen<lb/>
dem Gange der Begebenheiten aufmerksam gefolgt ist, wird in den polnischen<lb/>
Wirren nur eine Episode, eine gewaltsame Unterbrechung der regelmäßigen<lb/>
Entwickelung der europäischen Staatcnvcrhältnisse erkennen.  Ohne Zweifel ist<lb/>
die Möglichkeit gegeben, daß diese Episode, die sich um eine Frage von ursprüng¬<lb/>
lich secundärer Bedeutung dreht, mit der ebenso erschütternden wie unberechen¬<lb/>
baren Gewalt eines Erdbebens wirkt, daß sie eine völlige Umgestaltung der<lb/>
Machtverhältnisse herbeiführt und dadurch den Weg für ganz neue politische<lb/>
Combinationen eröffnet. Indessen sind dies doch eben nur entfernte Möglich¬<lb/>
keiten, und wir glauben kaum, daß der geniale Herrscher, welcher rastlos be¬<lb/>
müht scheint, die Bedeutung der Frage nach Möglichkeit zu steigern, selbst<lb/>
daran denkt, sie zu einer Umgestaltung des Welttheils auszunutzen, eben weil<lb/>
die natürliche Schwerkraft der Dinge einem derartigen Vorhaben entschieden<lb/>
widersteht.  Es ist ferner der Umstand nicht unbeachtet zu lassen, daß Napo¬<lb/>
leons Auftreten in dieser Frage zunächst nur ein defensives, durch die Furcht<lb/>
vor einem Wiedererwachen der östlichen Alliance gebotenes ist, wie denn auch<lb/>
noch in der gegenwärtigen Phase des Conflictes sein Verhalten gegen Oestreich<lb/>
mehr aus dem Streben zu erklären ist, diesen Staat von einem Bündniß mit<lb/>
Rußland und Preußen zurückzuhalten, als denselben zu offensiven Zwecken auf<lb/>
seine Seite zu ziehen.  Die letztere Absicht ist ihm deshalb nicht zuzutrauen,<lb/>
weil die Aussichten dazu zu gering sind, während ein Bündniß Oestreichs mit<lb/>
Preußen wahrscheinlich, vielleicht unvermeidlich sein würde, sobald die polnische<lb/>
Revolution räumlich über die bisher eingehaltenen Grenzen übergriffe, oder wenn<lb/>
sie ihren Charakter veränderte und jenem kosmopolitisch-nationalen Princip<lb/>
(der scheinbare Widerspruch des Ausdrucks liegt in der Sache) anheimfiele, das<lb/>
vor allen anderen Staaten Oestreich in seiner Existenz bedroht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1204" next="#ID_1205"> Indem wir also die Möglichkeit zugeben, daß die polnische Frage zum<lb/>
Heerde eines den Bestand des europäischen Staatensystems bedrohenden Er¬<lb/>
schütterungkreises werden könne, halten wir es doch jetzt noch, trotz mancher<lb/>
bedenklicher Anzeichen, für wahrscheinlicher, daß sie die Schranken diplomatischer<lb/>
Erörterungen nicht überschreiten werde, und daß, sobald sie zu einem definitiven<lb/>
oder vorläufigen Abschluß gelangt sein wird, die regelmäßigen Strömungen<lb/>
des Erdtheils um so kräftiger in ihr Bette zurückkehren und gegen einander</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1S63. 48</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0381] europäischen. Mischen den Großmächte zu schlichtenden Frage. Durch die fchles- wigfche Frage wird Preußens Stellung in dem Zusammenhange der europäi¬ schen Politik bestimmt, demgemäß hat Preußen also auch zu der orientalischen Frage, als dem Mittelpunkt der europäischen Politik, seine Haltung von der Rücksicht aus die ihm im Norden der Elbe obliegende Aufgabe leiten zu lassen. Es mag auffallend erscheinen, daß wir in einem Augenblick, wo Deutschland von einer ganz anderen Angelegenheit in fieberhafte Spannung und Aufregung perfekt wird, unsere Blicke auf Schleswig und den Orient richten. Wer indessen dem Gange der Begebenheiten aufmerksam gefolgt ist, wird in den polnischen Wirren nur eine Episode, eine gewaltsame Unterbrechung der regelmäßigen Entwickelung der europäischen Staatcnvcrhältnisse erkennen. Ohne Zweifel ist die Möglichkeit gegeben, daß diese Episode, die sich um eine Frage von ursprüng¬ lich secundärer Bedeutung dreht, mit der ebenso erschütternden wie unberechen¬ baren Gewalt eines Erdbebens wirkt, daß sie eine völlige Umgestaltung der Machtverhältnisse herbeiführt und dadurch den Weg für ganz neue politische Combinationen eröffnet. Indessen sind dies doch eben nur entfernte Möglich¬ keiten, und wir glauben kaum, daß der geniale Herrscher, welcher rastlos be¬ müht scheint, die Bedeutung der Frage nach Möglichkeit zu steigern, selbst daran denkt, sie zu einer Umgestaltung des Welttheils auszunutzen, eben weil die natürliche Schwerkraft der Dinge einem derartigen Vorhaben entschieden widersteht. Es ist ferner der Umstand nicht unbeachtet zu lassen, daß Napo¬ leons Auftreten in dieser Frage zunächst nur ein defensives, durch die Furcht vor einem Wiedererwachen der östlichen Alliance gebotenes ist, wie denn auch noch in der gegenwärtigen Phase des Conflictes sein Verhalten gegen Oestreich mehr aus dem Streben zu erklären ist, diesen Staat von einem Bündniß mit Rußland und Preußen zurückzuhalten, als denselben zu offensiven Zwecken auf seine Seite zu ziehen. Die letztere Absicht ist ihm deshalb nicht zuzutrauen, weil die Aussichten dazu zu gering sind, während ein Bündniß Oestreichs mit Preußen wahrscheinlich, vielleicht unvermeidlich sein würde, sobald die polnische Revolution räumlich über die bisher eingehaltenen Grenzen übergriffe, oder wenn sie ihren Charakter veränderte und jenem kosmopolitisch-nationalen Princip (der scheinbare Widerspruch des Ausdrucks liegt in der Sache) anheimfiele, das vor allen anderen Staaten Oestreich in seiner Existenz bedroht. Indem wir also die Möglichkeit zugeben, daß die polnische Frage zum Heerde eines den Bestand des europäischen Staatensystems bedrohenden Er¬ schütterungkreises werden könne, halten wir es doch jetzt noch, trotz mancher bedenklicher Anzeichen, für wahrscheinlicher, daß sie die Schranken diplomatischer Erörterungen nicht überschreiten werde, und daß, sobald sie zu einem definitiven oder vorläufigen Abschluß gelangt sein wird, die regelmäßigen Strömungen des Erdtheils um so kräftiger in ihr Bette zurückkehren und gegen einander Grenzboten II. 1S63. 48

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/381
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/381>, abgerufen am 19.10.2024.