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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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suchungshaft erfolgen mußte, so lange in Polizeihaft festzuhalten, als es dem
Minister beliebte, nicht die geringsten Bedenken. Dieses Gericht ging sogar
ganz ernsthaft mit "unvorgreiflichen Erachten" über die Frage, ob Gründe für
eine polizeiliche Detention der Angeschuldigten vorhanden seien, dem Ministerium
an die Hand und nahm es sich heraus, in einem von Bolle verfaßten Be¬
richt an das Oberappcllationsgericht über einen Antrag mehrer Angeschuldigter
auf Entlassung aus der Haft im Voraus zu erklären, daß es eine etwa günstige
Entscheidung des ObcrappcllationSgerichts nicht zur Ausführung bringen und
das Ministerium des Innern zu einer entgegengesetzten Anordnung bestimmen
werde. Die bezüglichen Worte des Berichts lauten: "Im Vorstehenden halten
wir unser Verfahren ehrerbietigst gerechtfertigt, dessen nicht einmal zu gedenken,
daß wir vor Entlassung der Inculpaten befehlsmäßig an das Ministerium des
Innern polizeilicher Maßregeln halber berichten müßten und daß Hochdasselbe
so dem Staate gefährliche Individuen, verurtheilt in längere Zuchthausstrafe,
bis zu rechtskräftiger Aburtheilung wohl schwerlich auf freien Fuß lassen würde."
Der Absolutismus hatte selbst die Rechtspflege so vollständig in Beschlag ge¬
nommen, daß die Richter nur noch "befehlsmäßig" handelten und M) um die
Gesetzlichkeit des Befehls nicht kümmerten. Wenn Gerichte sich zu bcfehls-
mäßiger Festhaltung der von Rechtswegen der Haft zu Entlassenden bereit zeigen
so wird auch die Praxis für erlaubt gehalten werden, daß ein Angeschuldigter
besehlsmäßig verurtheilt wird, welcher sonst nach den Rechten freigesprochen
werden müßte. Das Oberappellationsgmcht aber in seiner damaligen purificir-
ter Gestalt wagte nicht, diesen ministeriellen Eingriffen in die Justiz Widerstand
zu leisten. Ein mit Genehmigung des Ministers aus der Untersuchungshaft
gegen Cemtivn Entlassener erhob Beschwerde beim Oberappellativnsgericht, weil
die rechtskräftige Entscheidung nicht sofort, sondern erst nach der zur Einholung
der ministeriellen Genehmigung erforderlichen Frist zur Ausführung gebracht
war, erhielt aber darauf den Bescheid, daß das Obcrappellationsgcricht "wegen
derjenigen Verfügungen, welche das Criminalcvllegium auf Anweisung des
großherzoglichen Ministeriums des Innern getroffen hat, nicht competent" sei.

Daß in der ganzen Angelegenheit nicht das Recht, sondern die Politik
die herrschende und bestimmende Macht war, zeigte sich später auch in der Art,
wie auf Anrathen des Justizministers die Gnadenerweisungen distnbuirt wurden.
Von den 'Angeschuldigten stand nach dem rechtskräftigen Erkenntniß Moritz
Wiggers mit Dornblüth auf gleicher Stufe der Schuld und Strafe. Aber dem
Letzteren ward die erkannte Zuchthausstrafe in Festungsstrafe verwandelt, an
dem Ersteren aber setzte man die Zuchthausstrafe in vollen und ungemilderten
Vollzug. Die Reaction wollte in Moritz Wiggers den Präsidenten der Abgeord¬
netenkammer, die ganze Partei, deren Führer er war, ja die Anhänger einer
konstitutionellen Verfassung überhaupt demüthigen und strafen und die Bestre-


suchungshaft erfolgen mußte, so lange in Polizeihaft festzuhalten, als es dem
Minister beliebte, nicht die geringsten Bedenken. Dieses Gericht ging sogar
ganz ernsthaft mit „unvorgreiflichen Erachten" über die Frage, ob Gründe für
eine polizeiliche Detention der Angeschuldigten vorhanden seien, dem Ministerium
an die Hand und nahm es sich heraus, in einem von Bolle verfaßten Be¬
richt an das Oberappcllationsgericht über einen Antrag mehrer Angeschuldigter
auf Entlassung aus der Haft im Voraus zu erklären, daß es eine etwa günstige
Entscheidung des ObcrappcllationSgerichts nicht zur Ausführung bringen und
das Ministerium des Innern zu einer entgegengesetzten Anordnung bestimmen
werde. Die bezüglichen Worte des Berichts lauten: „Im Vorstehenden halten
wir unser Verfahren ehrerbietigst gerechtfertigt, dessen nicht einmal zu gedenken,
daß wir vor Entlassung der Inculpaten befehlsmäßig an das Ministerium des
Innern polizeilicher Maßregeln halber berichten müßten und daß Hochdasselbe
so dem Staate gefährliche Individuen, verurtheilt in längere Zuchthausstrafe,
bis zu rechtskräftiger Aburtheilung wohl schwerlich auf freien Fuß lassen würde."
Der Absolutismus hatte selbst die Rechtspflege so vollständig in Beschlag ge¬
nommen, daß die Richter nur noch „befehlsmäßig" handelten und M) um die
Gesetzlichkeit des Befehls nicht kümmerten. Wenn Gerichte sich zu bcfehls-
mäßiger Festhaltung der von Rechtswegen der Haft zu Entlassenden bereit zeigen
so wird auch die Praxis für erlaubt gehalten werden, daß ein Angeschuldigter
besehlsmäßig verurtheilt wird, welcher sonst nach den Rechten freigesprochen
werden müßte. Das Oberappellationsgmcht aber in seiner damaligen purificir-
ter Gestalt wagte nicht, diesen ministeriellen Eingriffen in die Justiz Widerstand
zu leisten. Ein mit Genehmigung des Ministers aus der Untersuchungshaft
gegen Cemtivn Entlassener erhob Beschwerde beim Oberappellativnsgericht, weil
die rechtskräftige Entscheidung nicht sofort, sondern erst nach der zur Einholung
der ministeriellen Genehmigung erforderlichen Frist zur Ausführung gebracht
war, erhielt aber darauf den Bescheid, daß das Obcrappellationsgcricht „wegen
derjenigen Verfügungen, welche das Criminalcvllegium auf Anweisung des
großherzoglichen Ministeriums des Innern getroffen hat, nicht competent" sei.

Daß in der ganzen Angelegenheit nicht das Recht, sondern die Politik
die herrschende und bestimmende Macht war, zeigte sich später auch in der Art,
wie auf Anrathen des Justizministers die Gnadenerweisungen distnbuirt wurden.
Von den 'Angeschuldigten stand nach dem rechtskräftigen Erkenntniß Moritz
Wiggers mit Dornblüth auf gleicher Stufe der Schuld und Strafe. Aber dem
Letzteren ward die erkannte Zuchthausstrafe in Festungsstrafe verwandelt, an
dem Ersteren aber setzte man die Zuchthausstrafe in vollen und ungemilderten
Vollzug. Die Reaction wollte in Moritz Wiggers den Präsidenten der Abgeord¬
netenkammer, die ganze Partei, deren Führer er war, ja die Anhänger einer
konstitutionellen Verfassung überhaupt demüthigen und strafen und die Bestre-


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[0347] suchungshaft erfolgen mußte, so lange in Polizeihaft festzuhalten, als es dem Minister beliebte, nicht die geringsten Bedenken. Dieses Gericht ging sogar ganz ernsthaft mit „unvorgreiflichen Erachten" über die Frage, ob Gründe für eine polizeiliche Detention der Angeschuldigten vorhanden seien, dem Ministerium an die Hand und nahm es sich heraus, in einem von Bolle verfaßten Be¬ richt an das Oberappcllationsgericht über einen Antrag mehrer Angeschuldigter auf Entlassung aus der Haft im Voraus zu erklären, daß es eine etwa günstige Entscheidung des ObcrappcllationSgerichts nicht zur Ausführung bringen und das Ministerium des Innern zu einer entgegengesetzten Anordnung bestimmen werde. Die bezüglichen Worte des Berichts lauten: „Im Vorstehenden halten wir unser Verfahren ehrerbietigst gerechtfertigt, dessen nicht einmal zu gedenken, daß wir vor Entlassung der Inculpaten befehlsmäßig an das Ministerium des Innern polizeilicher Maßregeln halber berichten müßten und daß Hochdasselbe so dem Staate gefährliche Individuen, verurtheilt in längere Zuchthausstrafe, bis zu rechtskräftiger Aburtheilung wohl schwerlich auf freien Fuß lassen würde." Der Absolutismus hatte selbst die Rechtspflege so vollständig in Beschlag ge¬ nommen, daß die Richter nur noch „befehlsmäßig" handelten und M) um die Gesetzlichkeit des Befehls nicht kümmerten. Wenn Gerichte sich zu bcfehls- mäßiger Festhaltung der von Rechtswegen der Haft zu Entlassenden bereit zeigen so wird auch die Praxis für erlaubt gehalten werden, daß ein Angeschuldigter besehlsmäßig verurtheilt wird, welcher sonst nach den Rechten freigesprochen werden müßte. Das Oberappellationsgmcht aber in seiner damaligen purificir- ter Gestalt wagte nicht, diesen ministeriellen Eingriffen in die Justiz Widerstand zu leisten. Ein mit Genehmigung des Ministers aus der Untersuchungshaft gegen Cemtivn Entlassener erhob Beschwerde beim Oberappellativnsgericht, weil die rechtskräftige Entscheidung nicht sofort, sondern erst nach der zur Einholung der ministeriellen Genehmigung erforderlichen Frist zur Ausführung gebracht war, erhielt aber darauf den Bescheid, daß das Obcrappellationsgcricht „wegen derjenigen Verfügungen, welche das Criminalcvllegium auf Anweisung des großherzoglichen Ministeriums des Innern getroffen hat, nicht competent" sei. Daß in der ganzen Angelegenheit nicht das Recht, sondern die Politik die herrschende und bestimmende Macht war, zeigte sich später auch in der Art, wie auf Anrathen des Justizministers die Gnadenerweisungen distnbuirt wurden. Von den 'Angeschuldigten stand nach dem rechtskräftigen Erkenntniß Moritz Wiggers mit Dornblüth auf gleicher Stufe der Schuld und Strafe. Aber dem Letzteren ward die erkannte Zuchthausstrafe in Festungsstrafe verwandelt, an dem Ersteren aber setzte man die Zuchthausstrafe in vollen und ungemilderten Vollzug. Die Reaction wollte in Moritz Wiggers den Präsidenten der Abgeord¬ netenkammer, die ganze Partei, deren Führer er war, ja die Anhänger einer konstitutionellen Verfassung überhaupt demüthigen und strafen und die Bestre-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/347>, abgerufen am 20.10.2024.