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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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seinen europäischen Beziehungen ein so scharf individualisirtes Gepräge trägt,
der trotz der unausgesetzt in ihm wirkenden Centrifugalkraft eine so unverwüst¬
lich zähe Kraft der Cohärenz bewährt, wie wir sie sonst nur in Staaten zu
suchen gewohnt sind, die durch das natürliche Band der Nationalität zusam¬
mengehalten werden. Wer unterfängt sich die Lücke zu ermessen, die ein Zerfall
Oestreichs in dem europäischen Staatensystem hervorrufen würde, oder die
Erschütterungen, welchen die Naturnothwendigkeit, die Lücke auszufüllen, den
Continent unterwerfen würde?

Oestreichs europäische Bedeutung beruht aber größtentheils darauf, daß
es zu den Staaten gehört, welche die unmittelbarsten Beziehungen zu der orien¬
talischen Frage haben. Es steht in dieser Beziehung Rußland gleich, aber
zwischen beiden Staaten besteht der große Unterschied, daß jeder Erfolg Ru߬
lands im Orient das Gleichgewicht des europäischen Staatensystems zu zerstören
droht, während ein Vordringen Oestreichs nach Osten die Grundbedingung
ist, unter der die in den letzten Jahrzehnten vielfach verschobenen Machtverhält¬
nisse Europas eine den Forderungen des Gleichgewichts entsprechende Aus¬
gleichung und Consolidirung finden tonnen. Es ist somit ein verhängnißvoller
Umstand, daß Nußland in den orientalischen Angelegenheiten die thätige, man
kann wohl sagen die leitende Rolle übernommen hat, während Oestreich i"
völliger Verkennung der Grundlage seiner Größe sich seine Impulse ausschlie߬
lich von dem feindlichen Rivalen geben läßt.

Oestreich in seiner unvergleichlichen Geschicklichkeit. jeden Schritt, den es
thut, mit dem Nimbus würdevoller Überlegenheit und conservativer Solidität
zu umgeben, verfehlt nicht, sein Verhalten in den Angelegenheiten des Orients
als das Resultat einer großartigen Anschauung der europäischen Verhältnisse
darzustellen, und den Glauben zu verbreiten, daß es, im Besitz einer Macht, die
stark genug, um einer Steigerung nicht zu bedürfen, in dieser Frage ganz
dem Berufe sich hingeben könne, das Gleichgewicht des Continents gegen jeden
Uebergriff begehrlicher Mächte zu schützen und alle erhaltenden Kräfte des euro¬
päischen Staatensystems um sein Banner zu sammeln. Daß es der östreichi¬
schen Staatskunst in der That gelungen ist, diese Ansicht allgemein zu verbrei¬
ten, macht ihrer Gewandtheit alle Ehre, liefert aber einen niederschlagenden
Beweis von der unglaublichen Gedankenlosigkeit, mit der die öffentliche Mei¬
nung jede mit einiger Zuversicht ausgesprochene und oft wiederholte Behaup¬
tung als Wahrheit hinnimmt. Daß Oestreich die natürliche und berufene
Schutzmacht der Türkei sei, gilt für ein unerschütterliches Axiom, während doch
eine unbefangene Prüfung der Verhältnisse klar darthut, daß es in seiner orien¬
talischen Politik nur dem mächtigen Gebote der Verlegenheit folgt.

Oestreich hat, die Bahnen verfolgend, die seine Lebensader, die Donau,
ihm Wies, Stück für Stück der Türkei die Bausteine zu seinem Reiche ab-


seinen europäischen Beziehungen ein so scharf individualisirtes Gepräge trägt,
der trotz der unausgesetzt in ihm wirkenden Centrifugalkraft eine so unverwüst¬
lich zähe Kraft der Cohärenz bewährt, wie wir sie sonst nur in Staaten zu
suchen gewohnt sind, die durch das natürliche Band der Nationalität zusam¬
mengehalten werden. Wer unterfängt sich die Lücke zu ermessen, die ein Zerfall
Oestreichs in dem europäischen Staatensystem hervorrufen würde, oder die
Erschütterungen, welchen die Naturnothwendigkeit, die Lücke auszufüllen, den
Continent unterwerfen würde?

Oestreichs europäische Bedeutung beruht aber größtentheils darauf, daß
es zu den Staaten gehört, welche die unmittelbarsten Beziehungen zu der orien¬
talischen Frage haben. Es steht in dieser Beziehung Rußland gleich, aber
zwischen beiden Staaten besteht der große Unterschied, daß jeder Erfolg Ru߬
lands im Orient das Gleichgewicht des europäischen Staatensystems zu zerstören
droht, während ein Vordringen Oestreichs nach Osten die Grundbedingung
ist, unter der die in den letzten Jahrzehnten vielfach verschobenen Machtverhält¬
nisse Europas eine den Forderungen des Gleichgewichts entsprechende Aus¬
gleichung und Consolidirung finden tonnen. Es ist somit ein verhängnißvoller
Umstand, daß Nußland in den orientalischen Angelegenheiten die thätige, man
kann wohl sagen die leitende Rolle übernommen hat, während Oestreich i"
völliger Verkennung der Grundlage seiner Größe sich seine Impulse ausschlie߬
lich von dem feindlichen Rivalen geben läßt.

Oestreich in seiner unvergleichlichen Geschicklichkeit. jeden Schritt, den es
thut, mit dem Nimbus würdevoller Überlegenheit und conservativer Solidität
zu umgeben, verfehlt nicht, sein Verhalten in den Angelegenheiten des Orients
als das Resultat einer großartigen Anschauung der europäischen Verhältnisse
darzustellen, und den Glauben zu verbreiten, daß es, im Besitz einer Macht, die
stark genug, um einer Steigerung nicht zu bedürfen, in dieser Frage ganz
dem Berufe sich hingeben könne, das Gleichgewicht des Continents gegen jeden
Uebergriff begehrlicher Mächte zu schützen und alle erhaltenden Kräfte des euro¬
päischen Staatensystems um sein Banner zu sammeln. Daß es der östreichi¬
schen Staatskunst in der That gelungen ist, diese Ansicht allgemein zu verbrei¬
ten, macht ihrer Gewandtheit alle Ehre, liefert aber einen niederschlagenden
Beweis von der unglaublichen Gedankenlosigkeit, mit der die öffentliche Mei¬
nung jede mit einiger Zuversicht ausgesprochene und oft wiederholte Behaup¬
tung als Wahrheit hinnimmt. Daß Oestreich die natürliche und berufene
Schutzmacht der Türkei sei, gilt für ein unerschütterliches Axiom, während doch
eine unbefangene Prüfung der Verhältnisse klar darthut, daß es in seiner orien¬
talischen Politik nur dem mächtigen Gebote der Verlegenheit folgt.

Oestreich hat, die Bahnen verfolgend, die seine Lebensader, die Donau,
ihm Wies, Stück für Stück der Türkei die Bausteine zu seinem Reiche ab-


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[0224] seinen europäischen Beziehungen ein so scharf individualisirtes Gepräge trägt, der trotz der unausgesetzt in ihm wirkenden Centrifugalkraft eine so unverwüst¬ lich zähe Kraft der Cohärenz bewährt, wie wir sie sonst nur in Staaten zu suchen gewohnt sind, die durch das natürliche Band der Nationalität zusam¬ mengehalten werden. Wer unterfängt sich die Lücke zu ermessen, die ein Zerfall Oestreichs in dem europäischen Staatensystem hervorrufen würde, oder die Erschütterungen, welchen die Naturnothwendigkeit, die Lücke auszufüllen, den Continent unterwerfen würde? Oestreichs europäische Bedeutung beruht aber größtentheils darauf, daß es zu den Staaten gehört, welche die unmittelbarsten Beziehungen zu der orien¬ talischen Frage haben. Es steht in dieser Beziehung Rußland gleich, aber zwischen beiden Staaten besteht der große Unterschied, daß jeder Erfolg Ru߬ lands im Orient das Gleichgewicht des europäischen Staatensystems zu zerstören droht, während ein Vordringen Oestreichs nach Osten die Grundbedingung ist, unter der die in den letzten Jahrzehnten vielfach verschobenen Machtverhält¬ nisse Europas eine den Forderungen des Gleichgewichts entsprechende Aus¬ gleichung und Consolidirung finden tonnen. Es ist somit ein verhängnißvoller Umstand, daß Nußland in den orientalischen Angelegenheiten die thätige, man kann wohl sagen die leitende Rolle übernommen hat, während Oestreich i" völliger Verkennung der Grundlage seiner Größe sich seine Impulse ausschlie߬ lich von dem feindlichen Rivalen geben läßt. Oestreich in seiner unvergleichlichen Geschicklichkeit. jeden Schritt, den es thut, mit dem Nimbus würdevoller Überlegenheit und conservativer Solidität zu umgeben, verfehlt nicht, sein Verhalten in den Angelegenheiten des Orients als das Resultat einer großartigen Anschauung der europäischen Verhältnisse darzustellen, und den Glauben zu verbreiten, daß es, im Besitz einer Macht, die stark genug, um einer Steigerung nicht zu bedürfen, in dieser Frage ganz dem Berufe sich hingeben könne, das Gleichgewicht des Continents gegen jeden Uebergriff begehrlicher Mächte zu schützen und alle erhaltenden Kräfte des euro¬ päischen Staatensystems um sein Banner zu sammeln. Daß es der östreichi¬ schen Staatskunst in der That gelungen ist, diese Ansicht allgemein zu verbrei¬ ten, macht ihrer Gewandtheit alle Ehre, liefert aber einen niederschlagenden Beweis von der unglaublichen Gedankenlosigkeit, mit der die öffentliche Mei¬ nung jede mit einiger Zuversicht ausgesprochene und oft wiederholte Behaup¬ tung als Wahrheit hinnimmt. Daß Oestreich die natürliche und berufene Schutzmacht der Türkei sei, gilt für ein unerschütterliches Axiom, während doch eine unbefangene Prüfung der Verhältnisse klar darthut, daß es in seiner orien¬ talischen Politik nur dem mächtigen Gebote der Verlegenheit folgt. Oestreich hat, die Bahnen verfolgend, die seine Lebensader, die Donau, ihm Wies, Stück für Stück der Türkei die Bausteine zu seinem Reiche ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/224>, abgerufen am 20.10.2024.