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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Waaren dort feil, indem er schrie: "Spindeln, Kunkeln, Halsbänder für den
goldnen Zahn!" Denn er wußte, daß die Prinzessin einen Zahn verloren und
dafür einen goldnen eingesetzt hatte.

Als das die Mägde der Prinzessin hörten, sprachen sie zu ihr: "Hörst Du
nicht, Herrin, was dieser Lump ruft?"

"Laßt ihn schreien!" antwortete diese.

"Wollen wir denn nichts von ihm kaufen?"

"Kauft was ihr wollt!"

Als sie nun den Kaufmann herausgerufen, fragte ihn die Prinzessin: Wie
viel Thaler er für ein Halsband verlange? Der aber antwortete: "Ich verlange
kein Geld, sondern ein Maaß voll Erbsen." Als das die Mägde hörten,
lachten sie laut. Die Prinzessin aber befahl, dem Kaufmann die Erbsen zu
geben. Und wie er sie nun in seinen Sack schütten wollte, ließ er sie auf die
Erde fallen und setzte sich dann hin, um sie Stück für Stück aufzulesen, bis
es Nacht wurde. Da sprachen die Mägde: "Warum hast Du uns nicht um
ein anderes Maaß Erbsen gebeten, statt hier zu sitzen und die aufzulesen?"

"Nein, das geht nicht," sagte dieser, "denn das ist mein erster Handel.
Statt dessen aber bitte ich Euch, mir ein Kämmerchen zu zeigen, wo ich die
Nacht schlafen kann." Die Mägde gingen zur Prinzessin und erhielten von
ihr die Erlaubniß dazu. Da legte sich der Prinz auf die Lauer und entdeckte
so den Ort, wo die Schlüssel lagen, mit denen die Prinzessin eingesperrt wurde.
Und in der Nacht nahm er die Schlüssel, öffnete das Schlafgemach, warf ein
Schlaskraut auf die Prinzessin, das er deshalb bei sich führte, nahm sie auf
die Schultern und trug sie in seine Heimath.

Als die Prinzessin aufwachte, fand sie sich an einem fremden Orte und sprach
drei Jahre lang gar nicht. Da verlor die Mutter des Prinzen endlich die Ge¬
duld und sagte zu ihm: "Du bist wirklich ein Narr, daß Du einen so weiten
Weg gemacht und so viel ausgestanden hast, um Dir eine stumme Frau zu
holen! Werde doch endlich klug und laß sie sitzen und nimm eine andere/'
Sie stellten also eine große Hochzeit an, und als es zur Trauung des neuen
Brautpaares ging und alle Gäste Kerzen erhielten, gaben sie der Stummen
auch eine, und wie die Feier zu Ende war, da warf sie die Kerze nicht weg
gleich den Andern, sondern behielt sie in der Hand, und alle Welt sagte zu
ihr: "Du verbrennst Deine Hand, Stumme!" Sie aber that, als hörte sie es
nicht. Da kam der Bräutigam selbst und sagte zu ihr: "Stumme, Du ver¬
brennst Dir die Hand!" Sie aber that, als hörte sie's nicht. Drauf sprach
der Bräutigam: "Laßt auch die Braut ihr zureden!" Und die Braut sprach:
"Stumme, Du verbrennst Dir die Hand!" Da rief diese plötzlich: "Stumm
sollst Du selbst werden und dahin gehen, wo Du hergekommen bist! Ich habe
zum Prinzen ein Wort gesprochen und bin deswegen drei Jahre stumm ge-


Waaren dort feil, indem er schrie: „Spindeln, Kunkeln, Halsbänder für den
goldnen Zahn!" Denn er wußte, daß die Prinzessin einen Zahn verloren und
dafür einen goldnen eingesetzt hatte.

Als das die Mägde der Prinzessin hörten, sprachen sie zu ihr: „Hörst Du
nicht, Herrin, was dieser Lump ruft?"

„Laßt ihn schreien!" antwortete diese.

„Wollen wir denn nichts von ihm kaufen?"

„Kauft was ihr wollt!"

Als sie nun den Kaufmann herausgerufen, fragte ihn die Prinzessin: Wie
viel Thaler er für ein Halsband verlange? Der aber antwortete: „Ich verlange
kein Geld, sondern ein Maaß voll Erbsen." Als das die Mägde hörten,
lachten sie laut. Die Prinzessin aber befahl, dem Kaufmann die Erbsen zu
geben. Und wie er sie nun in seinen Sack schütten wollte, ließ er sie auf die
Erde fallen und setzte sich dann hin, um sie Stück für Stück aufzulesen, bis
es Nacht wurde. Da sprachen die Mägde: „Warum hast Du uns nicht um
ein anderes Maaß Erbsen gebeten, statt hier zu sitzen und die aufzulesen?"

„Nein, das geht nicht," sagte dieser, „denn das ist mein erster Handel.
Statt dessen aber bitte ich Euch, mir ein Kämmerchen zu zeigen, wo ich die
Nacht schlafen kann." Die Mägde gingen zur Prinzessin und erhielten von
ihr die Erlaubniß dazu. Da legte sich der Prinz auf die Lauer und entdeckte
so den Ort, wo die Schlüssel lagen, mit denen die Prinzessin eingesperrt wurde.
Und in der Nacht nahm er die Schlüssel, öffnete das Schlafgemach, warf ein
Schlaskraut auf die Prinzessin, das er deshalb bei sich führte, nahm sie auf
die Schultern und trug sie in seine Heimath.

Als die Prinzessin aufwachte, fand sie sich an einem fremden Orte und sprach
drei Jahre lang gar nicht. Da verlor die Mutter des Prinzen endlich die Ge¬
duld und sagte zu ihm: „Du bist wirklich ein Narr, daß Du einen so weiten
Weg gemacht und so viel ausgestanden hast, um Dir eine stumme Frau zu
holen! Werde doch endlich klug und laß sie sitzen und nimm eine andere/'
Sie stellten also eine große Hochzeit an, und als es zur Trauung des neuen
Brautpaares ging und alle Gäste Kerzen erhielten, gaben sie der Stummen
auch eine, und wie die Feier zu Ende war, da warf sie die Kerze nicht weg
gleich den Andern, sondern behielt sie in der Hand, und alle Welt sagte zu
ihr: „Du verbrennst Deine Hand, Stumme!" Sie aber that, als hörte sie es
nicht. Da kam der Bräutigam selbst und sagte zu ihr: „Stumme, Du ver¬
brennst Dir die Hand!" Sie aber that, als hörte sie's nicht. Drauf sprach
der Bräutigam: „Laßt auch die Braut ihr zureden!" Und die Braut sprach:
„Stumme, Du verbrennst Dir die Hand!" Da rief diese plötzlich: „Stumm
sollst Du selbst werden und dahin gehen, wo Du hergekommen bist! Ich habe
zum Prinzen ein Wort gesprochen und bin deswegen drei Jahre stumm ge-


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[0076] Waaren dort feil, indem er schrie: „Spindeln, Kunkeln, Halsbänder für den goldnen Zahn!" Denn er wußte, daß die Prinzessin einen Zahn verloren und dafür einen goldnen eingesetzt hatte. Als das die Mägde der Prinzessin hörten, sprachen sie zu ihr: „Hörst Du nicht, Herrin, was dieser Lump ruft?" „Laßt ihn schreien!" antwortete diese. „Wollen wir denn nichts von ihm kaufen?" „Kauft was ihr wollt!" Als sie nun den Kaufmann herausgerufen, fragte ihn die Prinzessin: Wie viel Thaler er für ein Halsband verlange? Der aber antwortete: „Ich verlange kein Geld, sondern ein Maaß voll Erbsen." Als das die Mägde hörten, lachten sie laut. Die Prinzessin aber befahl, dem Kaufmann die Erbsen zu geben. Und wie er sie nun in seinen Sack schütten wollte, ließ er sie auf die Erde fallen und setzte sich dann hin, um sie Stück für Stück aufzulesen, bis es Nacht wurde. Da sprachen die Mägde: „Warum hast Du uns nicht um ein anderes Maaß Erbsen gebeten, statt hier zu sitzen und die aufzulesen?" „Nein, das geht nicht," sagte dieser, „denn das ist mein erster Handel. Statt dessen aber bitte ich Euch, mir ein Kämmerchen zu zeigen, wo ich die Nacht schlafen kann." Die Mägde gingen zur Prinzessin und erhielten von ihr die Erlaubniß dazu. Da legte sich der Prinz auf die Lauer und entdeckte so den Ort, wo die Schlüssel lagen, mit denen die Prinzessin eingesperrt wurde. Und in der Nacht nahm er die Schlüssel, öffnete das Schlafgemach, warf ein Schlaskraut auf die Prinzessin, das er deshalb bei sich führte, nahm sie auf die Schultern und trug sie in seine Heimath. Als die Prinzessin aufwachte, fand sie sich an einem fremden Orte und sprach drei Jahre lang gar nicht. Da verlor die Mutter des Prinzen endlich die Ge¬ duld und sagte zu ihm: „Du bist wirklich ein Narr, daß Du einen so weiten Weg gemacht und so viel ausgestanden hast, um Dir eine stumme Frau zu holen! Werde doch endlich klug und laß sie sitzen und nimm eine andere/' Sie stellten also eine große Hochzeit an, und als es zur Trauung des neuen Brautpaares ging und alle Gäste Kerzen erhielten, gaben sie der Stummen auch eine, und wie die Feier zu Ende war, da warf sie die Kerze nicht weg gleich den Andern, sondern behielt sie in der Hand, und alle Welt sagte zu ihr: „Du verbrennst Deine Hand, Stumme!" Sie aber that, als hörte sie es nicht. Da kam der Bräutigam selbst und sagte zu ihr: „Stumme, Du ver¬ brennst Dir die Hand!" Sie aber that, als hörte sie's nicht. Drauf sprach der Bräutigam: „Laßt auch die Braut ihr zureden!" Und die Braut sprach: „Stumme, Du verbrennst Dir die Hand!" Da rief diese plötzlich: „Stumm sollst Du selbst werden und dahin gehen, wo Du hergekommen bist! Ich habe zum Prinzen ein Wort gesprochen und bin deswegen drei Jahre stumm ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/76>, abgerufen am 25.11.2024.