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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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gemein anerkannt worden. Der beste Prüfstein für sie ist die Betrachtung unter
einem Gesichtspunkte, die denen, welche sie zuerst gemacht haben, ohne Zweifel
fern gelegen hat. Der Orient, dessen Geschicke in unseren Handbüchern nach
der Mongvlenzeit im Wesentlichen ganz bei Seite gelassen zu werden Pflegen,
hat um dieselbe Zeit die politische Gestaltung erhalten, welche in ihren Grund¬
zügen bis in die Gegenwart geblieben ist. 1517 siel Aegypten in die Hände
der Osmanen, deren Machtstellung am Mittelmeer durch diese Eroberung ihren
Abschluß erhielt. Fast gleichzeitig gelangten damals an zwei von einander weit
entlegenen Punkten die Nachkommen Alis, deren Ansprüche vom Beginn des
Chalifats an die mohammedanische Welt in Athem erhalten hatten, zur ersehnten
Herrschaft, in Marokko 1519, in Persien 1500. Während so das revolutionärste
Element des Islam in gesetzliche Bahnen übergeleitet wurde, erweiterte sich
zugleich bei der nationalen Unterlage, welche das Alidenthum in Persien hatte,
durch dessen politische Consolidirung der Riß zwischen Schiiten und Sunniten
zur unausfüllbaren Kluft: der Hauptanstoß für den künftigen Untergang der
islamischen Welt war damit gegeben. Die letzte Welle der großen türkisch¬
mongolischen Völkerwanderung, die mit dem Hunneneinbruch begonnen hatte
und Stoß auf Stoß das ganze Mittelalter hindurch fortgegangen war, über¬
schwemmte damals die Tartarei; die Invasion derselben durch die Usbeken nöthigte
den mongolischen Adel und seinen König Baber zur Auswanderung, und veran¬
laßte so die Stiftung des Großmogulreichs in Indien (1526). Es war auch ein
Zeichen der Zeit, daß im Laufe weniger Jahre die beiden großen Militäraristo¬
kratien der Mameluken in Kahira und der Patanen in Delhi ein jähes Ende
nahmen und solideren politischen Gebilden Platz machten. In allen großen
moslemischen Reichen mit Ausnahme des osmanischen waren dem Eintritt der
neuen Zeit Perioden der ärgsten Zerrüttung vorausgegangen, welche das Aus¬
einanderfallen aller größeren Staatsorganismen in einen Komplex von Klein¬
staaten ohne nationale Bedeutung zu besiegeln schienen: für Marokko, Persien
und Indien sind die Dynastien, welche zu Anfang des sechzehnten Jahrhun-
derts zur Herrschaft gelangten, zugleich die Gründer des modernen Staates
geworden. Das neue Staatensystem, welches von jener Zeit datirt, hat dem
Oriente im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eine schöne Abendröthe
gebracht, und Namen wie Soliman, Ismail und Schah Abbas, Baber und
Akbar haben eine über die Grenzen des Islam hinausreichende universelle Be¬
deutung erlangt.

Das Mittelalter ist nichts als die Vorhalle der neuen Geschichte, wie sich
schon daraus entnehmen läßt, daß der in staatlicher Beziehung so angemessene
Abschnitt zwischen beiden für die Literatur so gut wie gar keine Bedeutung hat.
Einen ganz anderen tieferen Sinn hat die Scheidung zwischen dem Alter,
thun und der mit dem Mittelalter beginnenden Neuzeit. Man


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gemein anerkannt worden. Der beste Prüfstein für sie ist die Betrachtung unter
einem Gesichtspunkte, die denen, welche sie zuerst gemacht haben, ohne Zweifel
fern gelegen hat. Der Orient, dessen Geschicke in unseren Handbüchern nach
der Mongvlenzeit im Wesentlichen ganz bei Seite gelassen zu werden Pflegen,
hat um dieselbe Zeit die politische Gestaltung erhalten, welche in ihren Grund¬
zügen bis in die Gegenwart geblieben ist. 1517 siel Aegypten in die Hände
der Osmanen, deren Machtstellung am Mittelmeer durch diese Eroberung ihren
Abschluß erhielt. Fast gleichzeitig gelangten damals an zwei von einander weit
entlegenen Punkten die Nachkommen Alis, deren Ansprüche vom Beginn des
Chalifats an die mohammedanische Welt in Athem erhalten hatten, zur ersehnten
Herrschaft, in Marokko 1519, in Persien 1500. Während so das revolutionärste
Element des Islam in gesetzliche Bahnen übergeleitet wurde, erweiterte sich
zugleich bei der nationalen Unterlage, welche das Alidenthum in Persien hatte,
durch dessen politische Consolidirung der Riß zwischen Schiiten und Sunniten
zur unausfüllbaren Kluft: der Hauptanstoß für den künftigen Untergang der
islamischen Welt war damit gegeben. Die letzte Welle der großen türkisch¬
mongolischen Völkerwanderung, die mit dem Hunneneinbruch begonnen hatte
und Stoß auf Stoß das ganze Mittelalter hindurch fortgegangen war, über¬
schwemmte damals die Tartarei; die Invasion derselben durch die Usbeken nöthigte
den mongolischen Adel und seinen König Baber zur Auswanderung, und veran¬
laßte so die Stiftung des Großmogulreichs in Indien (1526). Es war auch ein
Zeichen der Zeit, daß im Laufe weniger Jahre die beiden großen Militäraristo¬
kratien der Mameluken in Kahira und der Patanen in Delhi ein jähes Ende
nahmen und solideren politischen Gebilden Platz machten. In allen großen
moslemischen Reichen mit Ausnahme des osmanischen waren dem Eintritt der
neuen Zeit Perioden der ärgsten Zerrüttung vorausgegangen, welche das Aus¬
einanderfallen aller größeren Staatsorganismen in einen Komplex von Klein¬
staaten ohne nationale Bedeutung zu besiegeln schienen: für Marokko, Persien
und Indien sind die Dynastien, welche zu Anfang des sechzehnten Jahrhun-
derts zur Herrschaft gelangten, zugleich die Gründer des modernen Staates
geworden. Das neue Staatensystem, welches von jener Zeit datirt, hat dem
Oriente im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eine schöne Abendröthe
gebracht, und Namen wie Soliman, Ismail und Schah Abbas, Baber und
Akbar haben eine über die Grenzen des Islam hinausreichende universelle Be¬
deutung erlangt.

Das Mittelalter ist nichts als die Vorhalle der neuen Geschichte, wie sich
schon daraus entnehmen läßt, daß der in staatlicher Beziehung so angemessene
Abschnitt zwischen beiden für die Literatur so gut wie gar keine Bedeutung hat.
Einen ganz anderen tieferen Sinn hat die Scheidung zwischen dem Alter,
thun und der mit dem Mittelalter beginnenden Neuzeit. Man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/339>, abgerufen am 27.07.2024.