Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.Wucht und Nachdruck aber erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings Und wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen von Lessings 39"
Wucht und Nachdruck aber erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings Und wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen von Lessings 39"
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187809"/> <p xml:id="ID_1178"> Wucht und Nachdruck aber erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings<lb/> Dichterthaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten Formen und Empfin¬<lb/> dungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte seinen Scharfsinn, der<lb/> es liebte zu spielen, jenes Grenzgebiet zwischen Dichtung und Prosa: — Fabel<lb/> und Sinnspruch, Doch zur rechten Geltung gelangte das ihm eigene schöne<lb/> Gleichgewicht des ordnenden Verstandes und schöpferischer Phantasie in dem<lb/> Drama. Wie er schon als Student an der wirtlichen Bühne sich geschult,<lb/> ja seine Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der<lb/> Neuberin, die uns als die Vorläufern! der modernen Schauspielkunst gilt: so<lb/> kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit jener Ham¬<lb/> burger Vühne. die heute als die erste Erscheinung des neuen deutschen Schau¬<lb/> spiels bezeichnet wird. Und wie co damals schon unter den Franzosen sich die<lb/> natürlichere Schule Marivaux zum Muster wählte, so führte er jetzt die ger¬<lb/> manische Dichtung auf den gerade» Weg zurück, brachte ihr die Naturwahrheit,<lb/> die freie Bewegung des shal'cspeareschen Dramas. Aber ein Reformer —<lb/> wie der maßvollen Natur des Künstlers ziemt — nicht ein Revolutionär —<lb/> wie sollte er sich vermessen, auf unsre Verwandelte Bühne den ungebundenen<lb/> Scenenwechsel des altenglischen Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche<lb/> Götzen gestürzt, wie sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen — was<lb/> die Gedankenlosen noch heute nachsprechen? In der Charakterzeichnung aller¬<lb/> dings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen wich nur<lb/> wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren Verstandesschärfe<lb/> dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm — seine dramatischen Thaten<lb/> bezeugen es — einen billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das<lb/> französische Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur daß jetzt<lb/> statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin, die Tellheim. Odoardo.<lb/> Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen Recht der Persönl¬<lb/> ichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich stellt, sind die höchsten<lb/> nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem tragischen Gehalt sind seitdem über<lb/> unsere Bretter gegangen. Doch in seinem engen Kreise schaltet er mit einer<lb/> dialektischen Kunst und einem Reichthume der Erfindung, weiß er seine Charak¬<lb/> tere in eine leidenschaftliche dramatische Bewegung hineinzuwcisen, die allen<lb/> Zeiten bewundernswerth bleiben wird,</p><lb/> <p xml:id="ID_1179" next="#ID_1180"> Und wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen von Lessings<lb/> Mannesalter die Bühne umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch<lb/> seinen besonderen Einfluß geübt aus unser öffentliches Leben. Schon Sarah<lb/> Sampson, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen konnte nur gedichtet<lb/> werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend<lb/> Zurück ans das Selbstgefühl dieser Classe. Welch ein Griff aber mitten hinein<lb/> in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing sich des Stiefkindes unsrer</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 39"</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0315]
Wucht und Nachdruck aber erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings
Dichterthaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten Formen und Empfin¬
dungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte seinen Scharfsinn, der
es liebte zu spielen, jenes Grenzgebiet zwischen Dichtung und Prosa: — Fabel
und Sinnspruch, Doch zur rechten Geltung gelangte das ihm eigene schöne
Gleichgewicht des ordnenden Verstandes und schöpferischer Phantasie in dem
Drama. Wie er schon als Student an der wirtlichen Bühne sich geschult,
ja seine Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der
Neuberin, die uns als die Vorläufern! der modernen Schauspielkunst gilt: so
kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit jener Ham¬
burger Vühne. die heute als die erste Erscheinung des neuen deutschen Schau¬
spiels bezeichnet wird. Und wie co damals schon unter den Franzosen sich die
natürlichere Schule Marivaux zum Muster wählte, so führte er jetzt die ger¬
manische Dichtung auf den gerade» Weg zurück, brachte ihr die Naturwahrheit,
die freie Bewegung des shal'cspeareschen Dramas. Aber ein Reformer —
wie der maßvollen Natur des Künstlers ziemt — nicht ein Revolutionär —
wie sollte er sich vermessen, auf unsre Verwandelte Bühne den ungebundenen
Scenenwechsel des altenglischen Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche
Götzen gestürzt, wie sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen — was
die Gedankenlosen noch heute nachsprechen? In der Charakterzeichnung aller¬
dings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen wich nur
wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren Verstandesschärfe
dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm — seine dramatischen Thaten
bezeugen es — einen billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das
französische Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur daß jetzt
statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin, die Tellheim. Odoardo.
Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen Recht der Persönl¬
ichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich stellt, sind die höchsten
nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem tragischen Gehalt sind seitdem über
unsere Bretter gegangen. Doch in seinem engen Kreise schaltet er mit einer
dialektischen Kunst und einem Reichthume der Erfindung, weiß er seine Charak¬
tere in eine leidenschaftliche dramatische Bewegung hineinzuwcisen, die allen
Zeiten bewundernswerth bleiben wird,
Und wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen von Lessings
Mannesalter die Bühne umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch
seinen besonderen Einfluß geübt aus unser öffentliches Leben. Schon Sarah
Sampson, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen konnte nur gedichtet
werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend
Zurück ans das Selbstgefühl dieser Classe. Welch ein Griff aber mitten hinein
in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing sich des Stiefkindes unsrer
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