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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering,
welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch,
was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinaus¬
liegt? Es ist wahr, weit später als andern Völkern ist den Deutschen der
Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert seit jener Morgen
graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort
das Räthsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser.
während Klopstock und Wieland unserm Volke nur Namen sind? Hat doch
auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr Shake¬
speare seinen breiten Schatten geworfen, und ungelenke Freude kann der derbe
Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorieen so wenig empfinden,
wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar,
wir müssen eine andre Antwort suchen.

Ein Märchen ist es. erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je
ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner
Fahnen schaut ein Volk aus. wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern
vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie
einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Und nie genug werden wir
die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen
Größe beneiden, daß ihnen die Kunst eine goldene Frucht an dem Baume
staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Fecnkönigin,
so steigt vor seinen Augen auf das Bild der jungfräulichen Königin, er sieht
sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche
Armada wich, und hinter den kriegerischen Schaaren der Engel in Miltons
verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So
tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das
Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die
Wucht großer staatlicher Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charak¬
ter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch
ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von
einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen
unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mcdicäers Güte lächelte, so
auch im Tode sind sie, was sie find, durch sich selbst allein. Als Lessing sein
letztes Drama schrieb, frug er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so
bald erscheinen würden, die dies Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und
Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde.
Und -- vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Natha" in neugrie¬
chischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken
die edlen Worte erklangen: "es strebe von Euch jeder um die Wette, die
Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen", und die rechtgläubigen


Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering,
welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch,
was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinaus¬
liegt? Es ist wahr, weit später als andern Völkern ist den Deutschen der
Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert seit jener Morgen
graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort
das Räthsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser.
während Klopstock und Wieland unserm Volke nur Namen sind? Hat doch
auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr Shake¬
speare seinen breiten Schatten geworfen, und ungelenke Freude kann der derbe
Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorieen so wenig empfinden,
wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar,
wir müssen eine andre Antwort suchen.

Ein Märchen ist es. erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je
ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner
Fahnen schaut ein Volk aus. wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern
vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie
einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Und nie genug werden wir
die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen
Größe beneiden, daß ihnen die Kunst eine goldene Frucht an dem Baume
staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Fecnkönigin,
so steigt vor seinen Augen auf das Bild der jungfräulichen Königin, er sieht
sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche
Armada wich, und hinter den kriegerischen Schaaren der Engel in Miltons
verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So
tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das
Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die
Wucht großer staatlicher Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charak¬
ter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch
ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von
einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen
unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mcdicäers Güte lächelte, so
auch im Tode sind sie, was sie find, durch sich selbst allein. Als Lessing sein
letztes Drama schrieb, frug er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so
bald erscheinen würden, die dies Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und
Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde.
Und — vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Natha» in neugrie¬
chischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken
die edlen Worte erklangen: „es strebe von Euch jeder um die Wette, die
Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen", und die rechtgläubigen


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[0310] Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering, welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch, was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinaus¬ liegt? Es ist wahr, weit später als andern Völkern ist den Deutschen der Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert seit jener Morgen graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort das Räthsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser. während Klopstock und Wieland unserm Volke nur Namen sind? Hat doch auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr Shake¬ speare seinen breiten Schatten geworfen, und ungelenke Freude kann der derbe Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorieen so wenig empfinden, wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar, wir müssen eine andre Antwort suchen. Ein Märchen ist es. erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner Fahnen schaut ein Volk aus. wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Und nie genug werden wir die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen Größe beneiden, daß ihnen die Kunst eine goldene Frucht an dem Baume staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Fecnkönigin, so steigt vor seinen Augen auf das Bild der jungfräulichen Königin, er sieht sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche Armada wich, und hinter den kriegerischen Schaaren der Engel in Miltons verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die Wucht großer staatlicher Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charak¬ ter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mcdicäers Güte lächelte, so auch im Tode sind sie, was sie find, durch sich selbst allein. Als Lessing sein letztes Drama schrieb, frug er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so bald erscheinen würden, die dies Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde. Und — vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Natha» in neugrie¬ chischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken die edlen Worte erklangen: „es strebe von Euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen", und die rechtgläubigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/310>, abgerufen am 27.07.2024.