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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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vom ersten bis zum letzten Aesthetiker der einmüthige Ruf: "Greife zur Geschichte,
male die großen Wendepunkte. in denen sich der Geist zur entscheidenden, die
Geschicke einer Welt bestimmenden That zusammenfaßt, aus denen ja seine
Unendlichkeit in Einen Strahl gesammelt leuchtet, und du wirst das moderne
Ideal schaffen, das keinem früheren weder an Gehalt noch auch an Schönheit
nachstehen wird."

Berlin unternahm es, die neue Epoche, welche sich unvermuthet der Kunst
aufthat, mit einem großen Beispiel einzuleiten. Eine umfassendere Aufgabe
war der monumentalen Kunst noch nicht gestellt worden: das ganze geschicht¬
liche Leben sollte in seinen Hauptmomenten durch einen Cyklus von Gemälden
veranschaulicht werden. Also nicht ein einzelnes Ereigiuß, nicht die eigenthüm¬
liche Erscheinung dieses oder jenes Weltzustandes, sondern der eigentliche Nerv
der Geschichte, ihre Seele, wie sie in den einzelnen Höhepunkten ihrer durch
die Zeiten und Nationen fortlaufenden Entwickelung herausschlägt.

Wir untersuchen hier nicht, wie weit diese Lichtblicke der Geschichte male¬
risch sind und Vorwürfe der Kunst werden können, ohne ihr Zwang anzu¬
thun, auch dies nicht, ob in dem Nebeneinander solcher Darstellungen der Be¬
schauer auch nur eine Ahnung von dem großen Lauf.der Dinge erhalten kann.
Aber zweierlei Bedenken, die sich dem Unternehmen entgegenstellen, sind um
so mehr hervorzuheben, als sie von vornherein unbeachtet geblieben sind.

Die Ergebnisse des geschichtlichen Denkens wollte man von der bildenden
Kunst festgehalten sehen; aber ob diese Stoffe Leben und Gestalt in der Phan¬
tasie gewinnen können, vo" der doch allein die Kunst ihre Vorwürfe empfängt,
darnach frug man nicht. Der Künstler braucht ein Object, das seine Phantasie
entzündet, weil es in der allgemeinen Phantasie, in der inneren Anschauung
des Volkes lebendig und wirksam ist. Die weltgeschichtlichen Ideen aber und
ihre Verwirklichung im Weltenlauf sind erst Ergebnisse der Forschung und der
allgemeinen Phantasie noch ebenso fremd, als Raum und Zeit nach Kantischen
Begriffen. Vor solchen historischen Stoffen steht der Künstler wie vor einer
starren Masse, der er mühselig von außen den Lebenshauch erst einblasen muß,
statt daß sie aus sich selber bewegt ihm lebendig entgegenkommt. Diese
Schwierigkeit ist mit die Schuld, daß er gegenwärtig zwischen zwei entgegen¬
gesetzten, gleich einseitigen Richtungen hin- und hertreibt. In der einen hält
er sich an das Aeußerliche der Geschichte, an ihr Kleid, die malerische Er¬
scheinung ihrer Trachten und Geräthe und an die Haut gleichsam ihrer Indivi¬
duen: der neueste Realismus. In der anderen holt er die Gestalten und Bil¬
der der Mythe, welche die Kunst als abgethan eben erst zur Seite gelegt hat,
als einen ihm geläufigen Apparat wieder hervor, um das, was er in seiner
eigenen Erscheinung nicht recht sassen kann, wenigstens annähernd durch die
noch immer denkbaren Figuren einer vergangenen Phantasiewelt zu verbildlichen.


vom ersten bis zum letzten Aesthetiker der einmüthige Ruf: „Greife zur Geschichte,
male die großen Wendepunkte. in denen sich der Geist zur entscheidenden, die
Geschicke einer Welt bestimmenden That zusammenfaßt, aus denen ja seine
Unendlichkeit in Einen Strahl gesammelt leuchtet, und du wirst das moderne
Ideal schaffen, das keinem früheren weder an Gehalt noch auch an Schönheit
nachstehen wird."

Berlin unternahm es, die neue Epoche, welche sich unvermuthet der Kunst
aufthat, mit einem großen Beispiel einzuleiten. Eine umfassendere Aufgabe
war der monumentalen Kunst noch nicht gestellt worden: das ganze geschicht¬
liche Leben sollte in seinen Hauptmomenten durch einen Cyklus von Gemälden
veranschaulicht werden. Also nicht ein einzelnes Ereigiuß, nicht die eigenthüm¬
liche Erscheinung dieses oder jenes Weltzustandes, sondern der eigentliche Nerv
der Geschichte, ihre Seele, wie sie in den einzelnen Höhepunkten ihrer durch
die Zeiten und Nationen fortlaufenden Entwickelung herausschlägt.

Wir untersuchen hier nicht, wie weit diese Lichtblicke der Geschichte male¬
risch sind und Vorwürfe der Kunst werden können, ohne ihr Zwang anzu¬
thun, auch dies nicht, ob in dem Nebeneinander solcher Darstellungen der Be¬
schauer auch nur eine Ahnung von dem großen Lauf.der Dinge erhalten kann.
Aber zweierlei Bedenken, die sich dem Unternehmen entgegenstellen, sind um
so mehr hervorzuheben, als sie von vornherein unbeachtet geblieben sind.

Die Ergebnisse des geschichtlichen Denkens wollte man von der bildenden
Kunst festgehalten sehen; aber ob diese Stoffe Leben und Gestalt in der Phan¬
tasie gewinnen können, vo» der doch allein die Kunst ihre Vorwürfe empfängt,
darnach frug man nicht. Der Künstler braucht ein Object, das seine Phantasie
entzündet, weil es in der allgemeinen Phantasie, in der inneren Anschauung
des Volkes lebendig und wirksam ist. Die weltgeschichtlichen Ideen aber und
ihre Verwirklichung im Weltenlauf sind erst Ergebnisse der Forschung und der
allgemeinen Phantasie noch ebenso fremd, als Raum und Zeit nach Kantischen
Begriffen. Vor solchen historischen Stoffen steht der Künstler wie vor einer
starren Masse, der er mühselig von außen den Lebenshauch erst einblasen muß,
statt daß sie aus sich selber bewegt ihm lebendig entgegenkommt. Diese
Schwierigkeit ist mit die Schuld, daß er gegenwärtig zwischen zwei entgegen¬
gesetzten, gleich einseitigen Richtungen hin- und hertreibt. In der einen hält
er sich an das Aeußerliche der Geschichte, an ihr Kleid, die malerische Er¬
scheinung ihrer Trachten und Geräthe und an die Haut gleichsam ihrer Indivi¬
duen: der neueste Realismus. In der anderen holt er die Gestalten und Bil¬
der der Mythe, welche die Kunst als abgethan eben erst zur Seite gelegt hat,
als einen ihm geläufigen Apparat wieder hervor, um das, was er in seiner
eigenen Erscheinung nicht recht sassen kann, wenigstens annähernd durch die
noch immer denkbaren Figuren einer vergangenen Phantasiewelt zu verbildlichen.


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[0250] vom ersten bis zum letzten Aesthetiker der einmüthige Ruf: „Greife zur Geschichte, male die großen Wendepunkte. in denen sich der Geist zur entscheidenden, die Geschicke einer Welt bestimmenden That zusammenfaßt, aus denen ja seine Unendlichkeit in Einen Strahl gesammelt leuchtet, und du wirst das moderne Ideal schaffen, das keinem früheren weder an Gehalt noch auch an Schönheit nachstehen wird." Berlin unternahm es, die neue Epoche, welche sich unvermuthet der Kunst aufthat, mit einem großen Beispiel einzuleiten. Eine umfassendere Aufgabe war der monumentalen Kunst noch nicht gestellt worden: das ganze geschicht¬ liche Leben sollte in seinen Hauptmomenten durch einen Cyklus von Gemälden veranschaulicht werden. Also nicht ein einzelnes Ereigiuß, nicht die eigenthüm¬ liche Erscheinung dieses oder jenes Weltzustandes, sondern der eigentliche Nerv der Geschichte, ihre Seele, wie sie in den einzelnen Höhepunkten ihrer durch die Zeiten und Nationen fortlaufenden Entwickelung herausschlägt. Wir untersuchen hier nicht, wie weit diese Lichtblicke der Geschichte male¬ risch sind und Vorwürfe der Kunst werden können, ohne ihr Zwang anzu¬ thun, auch dies nicht, ob in dem Nebeneinander solcher Darstellungen der Be¬ schauer auch nur eine Ahnung von dem großen Lauf.der Dinge erhalten kann. Aber zweierlei Bedenken, die sich dem Unternehmen entgegenstellen, sind um so mehr hervorzuheben, als sie von vornherein unbeachtet geblieben sind. Die Ergebnisse des geschichtlichen Denkens wollte man von der bildenden Kunst festgehalten sehen; aber ob diese Stoffe Leben und Gestalt in der Phan¬ tasie gewinnen können, vo» der doch allein die Kunst ihre Vorwürfe empfängt, darnach frug man nicht. Der Künstler braucht ein Object, das seine Phantasie entzündet, weil es in der allgemeinen Phantasie, in der inneren Anschauung des Volkes lebendig und wirksam ist. Die weltgeschichtlichen Ideen aber und ihre Verwirklichung im Weltenlauf sind erst Ergebnisse der Forschung und der allgemeinen Phantasie noch ebenso fremd, als Raum und Zeit nach Kantischen Begriffen. Vor solchen historischen Stoffen steht der Künstler wie vor einer starren Masse, der er mühselig von außen den Lebenshauch erst einblasen muß, statt daß sie aus sich selber bewegt ihm lebendig entgegenkommt. Diese Schwierigkeit ist mit die Schuld, daß er gegenwärtig zwischen zwei entgegen¬ gesetzten, gleich einseitigen Richtungen hin- und hertreibt. In der einen hält er sich an das Aeußerliche der Geschichte, an ihr Kleid, die malerische Er¬ scheinung ihrer Trachten und Geräthe und an die Haut gleichsam ihrer Indivi¬ duen: der neueste Realismus. In der anderen holt er die Gestalten und Bil¬ der der Mythe, welche die Kunst als abgethan eben erst zur Seite gelegt hat, als einen ihm geläufigen Apparat wieder hervor, um das, was er in seiner eigenen Erscheinung nicht recht sassen kann, wenigstens annähernd durch die noch immer denkbaren Figuren einer vergangenen Phantasiewelt zu verbildlichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/250>, abgerufen am 22.11.2024.