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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Schon unter Guizot gestand einer seiner
Juliner, es koste unglaubliche Mühe, die Vorlagen für die Kammern zurecht
zu machen, d. h. Compromittirendes wegzulassen, ohne daß die Lücke gefühlt
werde, aber wenn man schon damals in diesen Mittheilungen nicht immer den
eigentlichen Schlüssel einer streitigen internationalen Frage zu finden hoffen durfte,
so noch viel weniger unter der kaiserlichen Regierung. Napoleon kennt aller¬
dings die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung und versäumt nichts, um sie zu
gewinnen, aber er ist darum keineswegs gesonnen, sich ihrem Richterstuhl zu
unterwerfen. Er hat deshalb eine doppelte Buchhaltung eingerichtet, in den
veröffentlichten Depeschen wird der Kampf für die höchsten Interessen des staat¬
lichen Lebens geführt, in den geheimen Depeschen liegen die wahren, nur zu
oft persönlichen Springfedern verborgen. Konsequent wie er ist, ging er noch
einen Schritt weiter und führte auch doppelte Buchhalter ein, neben den be¬
glaubigten Gesandten operiren geheime Agenten, die von jenen unabhängig
sind, und schon oft sind französische Diplomaten zu ihrem Erstaunen in ihren
Angaben direct vom Kaiser nach jenen verborgnen Quellen berichtigt. Dürfen
wir demzufolge nicht erwarten, in den veröffentlichten Documenten bis auf
den Grund der Fragen zü sehen, so geben sie uns doch immerhin merkwürdige
Fingerzeige. Voran steht die Sphinx der römischen Frage. Napoleon hat
hier selbst gesprochen, durch sein bereits im Herbst bekannt gewordnes Schrei¬
ben an Thouvenel. Man findet in demselben nichts, was eine Lösung an¬
deutet, sondern nur den stetig wiederholten Wunsch einer Ausgleichung zwischen
dem Widerstande der einen und der Begehrlichkeit der andern Partei. Er erklärt
sehr richtig die Motive beider, tadelt, daß jede die ihrigen absolut festhält,
anstatt im wohlverstandnen Interesse den Forderungen der Billigkeit und Ge¬
rechtigkeit Gehör zu geben, und meint, man müsse nicht daran verzweifeln, daß
die Wahrheit, dies göttliche Licht, sich Bahn breche und die Gegner zur Ver¬
söhnung führe. Sollte Napoleon, der gewiß nicht an dogmatischer Beschränkt¬
heit leidet, wirklich glauben, daß eine Vereinbarung zwischen dem päpstlichen
Aori xossumus und dem Cavourschen Programm: "Rom die Hauptstadt Ita¬
liens" möglich sei? Sollte er an die freie (römische) Kirche im freien Staate
glauben? Dann würde er sich für mächtig genug halten, um mit Bassanio im
Kaufmann von Venedig zu reden, Schnee und Feuer zu neuem Leben verbinden
zu können. Aber schwerlich wiegt er sich in derartigen Täuschungen. Wer die
Unterhaltungen des Cardinal Antonelli mit dem französischen Botschafter "och
im Zweifel über die Möglichkeit einer derartigen Sisyphusarbeit lassen können,
der wird schwerlich bekehrt werden können. Wir meinen, der Schlüssel für die
neueste, dem Papste günstige Wendung in der kaiserlichen Politik ist nur in
ganz bestimmt französischen Umständen zu suchen. Er liegt vor Allem in den
bevorstehenden Wahlen zum gesetzgebenden Körper. Der Kaiser, der durch seine


Grenzboten I. 1S63. 28

Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Schon unter Guizot gestand einer seiner
Juliner, es koste unglaubliche Mühe, die Vorlagen für die Kammern zurecht
zu machen, d. h. Compromittirendes wegzulassen, ohne daß die Lücke gefühlt
werde, aber wenn man schon damals in diesen Mittheilungen nicht immer den
eigentlichen Schlüssel einer streitigen internationalen Frage zu finden hoffen durfte,
so noch viel weniger unter der kaiserlichen Regierung. Napoleon kennt aller¬
dings die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung und versäumt nichts, um sie zu
gewinnen, aber er ist darum keineswegs gesonnen, sich ihrem Richterstuhl zu
unterwerfen. Er hat deshalb eine doppelte Buchhaltung eingerichtet, in den
veröffentlichten Depeschen wird der Kampf für die höchsten Interessen des staat¬
lichen Lebens geführt, in den geheimen Depeschen liegen die wahren, nur zu
oft persönlichen Springfedern verborgen. Konsequent wie er ist, ging er noch
einen Schritt weiter und führte auch doppelte Buchhalter ein, neben den be¬
glaubigten Gesandten operiren geheime Agenten, die von jenen unabhängig
sind, und schon oft sind französische Diplomaten zu ihrem Erstaunen in ihren
Angaben direct vom Kaiser nach jenen verborgnen Quellen berichtigt. Dürfen
wir demzufolge nicht erwarten, in den veröffentlichten Documenten bis auf
den Grund der Fragen zü sehen, so geben sie uns doch immerhin merkwürdige
Fingerzeige. Voran steht die Sphinx der römischen Frage. Napoleon hat
hier selbst gesprochen, durch sein bereits im Herbst bekannt gewordnes Schrei¬
ben an Thouvenel. Man findet in demselben nichts, was eine Lösung an¬
deutet, sondern nur den stetig wiederholten Wunsch einer Ausgleichung zwischen
dem Widerstande der einen und der Begehrlichkeit der andern Partei. Er erklärt
sehr richtig die Motive beider, tadelt, daß jede die ihrigen absolut festhält,
anstatt im wohlverstandnen Interesse den Forderungen der Billigkeit und Ge¬
rechtigkeit Gehör zu geben, und meint, man müsse nicht daran verzweifeln, daß
die Wahrheit, dies göttliche Licht, sich Bahn breche und die Gegner zur Ver¬
söhnung führe. Sollte Napoleon, der gewiß nicht an dogmatischer Beschränkt¬
heit leidet, wirklich glauben, daß eine Vereinbarung zwischen dem päpstlichen
Aori xossumus und dem Cavourschen Programm: „Rom die Hauptstadt Ita¬
liens" möglich sei? Sollte er an die freie (römische) Kirche im freien Staate
glauben? Dann würde er sich für mächtig genug halten, um mit Bassanio im
Kaufmann von Venedig zu reden, Schnee und Feuer zu neuem Leben verbinden
zu können. Aber schwerlich wiegt er sich in derartigen Täuschungen. Wer die
Unterhaltungen des Cardinal Antonelli mit dem französischen Botschafter »och
im Zweifel über die Möglichkeit einer derartigen Sisyphusarbeit lassen können,
der wird schwerlich bekehrt werden können. Wir meinen, der Schlüssel für die
neueste, dem Papste günstige Wendung in der kaiserlichen Politik ist nur in
ganz bestimmt französischen Umständen zu suchen. Er liegt vor Allem in den
bevorstehenden Wahlen zum gesetzgebenden Körper. Der Kaiser, der durch seine


Grenzboten I. 1S63. 28
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[0225] Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Schon unter Guizot gestand einer seiner Juliner, es koste unglaubliche Mühe, die Vorlagen für die Kammern zurecht zu machen, d. h. Compromittirendes wegzulassen, ohne daß die Lücke gefühlt werde, aber wenn man schon damals in diesen Mittheilungen nicht immer den eigentlichen Schlüssel einer streitigen internationalen Frage zu finden hoffen durfte, so noch viel weniger unter der kaiserlichen Regierung. Napoleon kennt aller¬ dings die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung und versäumt nichts, um sie zu gewinnen, aber er ist darum keineswegs gesonnen, sich ihrem Richterstuhl zu unterwerfen. Er hat deshalb eine doppelte Buchhaltung eingerichtet, in den veröffentlichten Depeschen wird der Kampf für die höchsten Interessen des staat¬ lichen Lebens geführt, in den geheimen Depeschen liegen die wahren, nur zu oft persönlichen Springfedern verborgen. Konsequent wie er ist, ging er noch einen Schritt weiter und führte auch doppelte Buchhalter ein, neben den be¬ glaubigten Gesandten operiren geheime Agenten, die von jenen unabhängig sind, und schon oft sind französische Diplomaten zu ihrem Erstaunen in ihren Angaben direct vom Kaiser nach jenen verborgnen Quellen berichtigt. Dürfen wir demzufolge nicht erwarten, in den veröffentlichten Documenten bis auf den Grund der Fragen zü sehen, so geben sie uns doch immerhin merkwürdige Fingerzeige. Voran steht die Sphinx der römischen Frage. Napoleon hat hier selbst gesprochen, durch sein bereits im Herbst bekannt gewordnes Schrei¬ ben an Thouvenel. Man findet in demselben nichts, was eine Lösung an¬ deutet, sondern nur den stetig wiederholten Wunsch einer Ausgleichung zwischen dem Widerstande der einen und der Begehrlichkeit der andern Partei. Er erklärt sehr richtig die Motive beider, tadelt, daß jede die ihrigen absolut festhält, anstatt im wohlverstandnen Interesse den Forderungen der Billigkeit und Ge¬ rechtigkeit Gehör zu geben, und meint, man müsse nicht daran verzweifeln, daß die Wahrheit, dies göttliche Licht, sich Bahn breche und die Gegner zur Ver¬ söhnung führe. Sollte Napoleon, der gewiß nicht an dogmatischer Beschränkt¬ heit leidet, wirklich glauben, daß eine Vereinbarung zwischen dem päpstlichen Aori xossumus und dem Cavourschen Programm: „Rom die Hauptstadt Ita¬ liens" möglich sei? Sollte er an die freie (römische) Kirche im freien Staate glauben? Dann würde er sich für mächtig genug halten, um mit Bassanio im Kaufmann von Venedig zu reden, Schnee und Feuer zu neuem Leben verbinden zu können. Aber schwerlich wiegt er sich in derartigen Täuschungen. Wer die Unterhaltungen des Cardinal Antonelli mit dem französischen Botschafter »och im Zweifel über die Möglichkeit einer derartigen Sisyphusarbeit lassen können, der wird schwerlich bekehrt werden können. Wir meinen, der Schlüssel für die neueste, dem Papste günstige Wendung in der kaiserlichen Politik ist nur in ganz bestimmt französischen Umständen zu suchen. Er liegt vor Allem in den bevorstehenden Wahlen zum gesetzgebenden Körper. Der Kaiser, der durch seine Grenzboten I. 1S63. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/225>, abgerufen am 22.11.2024.