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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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welche das Katharinensloster vor Tischendorf besucht haben, nennt namentlich
Shaw, Pococke und Bartes und fährt dann fort: "Ist es wahrscheinlich, daß
das Tiscbendorfsche Manuscript. wenn es damals im Kloster gewesen Ware, den
sorgfältigen und scharfsichtigen Blicken des Mr. Nantes entgangen sein würde?
-- Ja, erwidern die Sachwalter Tischendorfs, sehr leicht hätte es ihnen ent¬
gehen können, insofern es in einen alten Lappen eingewickelt war. -- In
einen alten Lappen! Wer hat jemals gehört, daß eine Bibelhandschrift in einem
Mönchskloster in einen alten Lappen eingewickelt war? Ist das nicht ganz so
unwahrscheinlich als irgend ein Theil des Geschichtchens von Simonides? Es
erinnert uns an nichts so lebhaft als an Dousterswivels Schatz, der sorgfältig
in eine alte Schnupftabaksdose versteckt war. Hätte es im Kloster ein Paar
alte Lederhosen gegeben, kein Zweifel, daß Tischendorf sie sorgfältig nach Hand
schriften untersucht hätte.

Ich meinestheils glaube weder an die Erzählung von dem "Lappen", noch
verwerfe ich sie. Sie ist wunderbar verdächtig, und die Versuchung zu einer
Täuschung war über die Maßen groß. Aber sie ist wenigstens möglich, und so
begnüge ich mich, sie in die Wagschale gegenüber dem verdächtigen Theil der
Geschichte des Simonides zu werfen.

Betrachten wir jetzt die Einwendungen, welche sich gegen die Erzählung
den symiotiscben Doctors darbieten. Seine Landsleute sollen die kühnsten
Taucher der Welt sein. Sehen wir zu, ob er bei seinem Untertauchen in den
Ocean der Literatur einen symiotiscben Schwamm oder die Perle der Wahrheit
aufgelesen hat. Die Einwürfe sind ernster Natur, ich gebe es zu; indeß könnten
sie doch nicht gerade entscheidend sein.

1. Was das lange Schweigen des Simonides betrifft gegenüber seinem
Anspruch, das angeblich alte Manuscript geschrieben zu haben, so müssen wir
einige billige Rücksicht auf die hellenische und klösterliche Erziehung des Mannes
und seine eigenthümlichen Idiosynkrasien nehmen. Er ist jedenfalls nicht der
Erste, welcher unter ähnlichen Verhältnissen ähnlich gehandelt hat, und nach dem,
was mit seinem "Uranios" passirt war, konnte er eine Art boshafter Befrie¬
digung empfinde", Deutschland sich blamiren zu sehen, die ihn veranlassen
konnte, die Leute eine beträchtliche Strecke gehen zu lassen, bevor er gegen Den
einschritt, der ihn damals ruinirt hatte.

2, Daß ein Buch wie der Codex Sinaiticus in zwanzig Monaten abgeschrie¬
ben wurde, ist allerdings ein außerordentliches Factum. Aber bis der Beweis
geführt ist, daß es unbedingt unmöglich war. wird dies keine genügende Ent¬
schuldigung sein, seine Erzählung zu verwerfen. Ein moderner Novellist ver¬
sichert uns, daß er in vierundzwanzig Stunden jene hundert Novellenseiten
erfand und schrieb, auf welchen sein ganzer literarischer Ruhm beruht, und
denen er in den folgenden dreißigjährigen Arbeiten nie etwas Gleiches an die


welche das Katharinensloster vor Tischendorf besucht haben, nennt namentlich
Shaw, Pococke und Bartes und fährt dann fort: „Ist es wahrscheinlich, daß
das Tiscbendorfsche Manuscript. wenn es damals im Kloster gewesen Ware, den
sorgfältigen und scharfsichtigen Blicken des Mr. Nantes entgangen sein würde?
— Ja, erwidern die Sachwalter Tischendorfs, sehr leicht hätte es ihnen ent¬
gehen können, insofern es in einen alten Lappen eingewickelt war. — In
einen alten Lappen! Wer hat jemals gehört, daß eine Bibelhandschrift in einem
Mönchskloster in einen alten Lappen eingewickelt war? Ist das nicht ganz so
unwahrscheinlich als irgend ein Theil des Geschichtchens von Simonides? Es
erinnert uns an nichts so lebhaft als an Dousterswivels Schatz, der sorgfältig
in eine alte Schnupftabaksdose versteckt war. Hätte es im Kloster ein Paar
alte Lederhosen gegeben, kein Zweifel, daß Tischendorf sie sorgfältig nach Hand
schriften untersucht hätte.

Ich meinestheils glaube weder an die Erzählung von dem „Lappen", noch
verwerfe ich sie. Sie ist wunderbar verdächtig, und die Versuchung zu einer
Täuschung war über die Maßen groß. Aber sie ist wenigstens möglich, und so
begnüge ich mich, sie in die Wagschale gegenüber dem verdächtigen Theil der
Geschichte des Simonides zu werfen.

Betrachten wir jetzt die Einwendungen, welche sich gegen die Erzählung
den symiotiscben Doctors darbieten. Seine Landsleute sollen die kühnsten
Taucher der Welt sein. Sehen wir zu, ob er bei seinem Untertauchen in den
Ocean der Literatur einen symiotiscben Schwamm oder die Perle der Wahrheit
aufgelesen hat. Die Einwürfe sind ernster Natur, ich gebe es zu; indeß könnten
sie doch nicht gerade entscheidend sein.

1. Was das lange Schweigen des Simonides betrifft gegenüber seinem
Anspruch, das angeblich alte Manuscript geschrieben zu haben, so müssen wir
einige billige Rücksicht auf die hellenische und klösterliche Erziehung des Mannes
und seine eigenthümlichen Idiosynkrasien nehmen. Er ist jedenfalls nicht der
Erste, welcher unter ähnlichen Verhältnissen ähnlich gehandelt hat, und nach dem,
was mit seinem „Uranios" passirt war, konnte er eine Art boshafter Befrie¬
digung empfinde», Deutschland sich blamiren zu sehen, die ihn veranlassen
konnte, die Leute eine beträchtliche Strecke gehen zu lassen, bevor er gegen Den
einschritt, der ihn damals ruinirt hatte.

2, Daß ein Buch wie der Codex Sinaiticus in zwanzig Monaten abgeschrie¬
ben wurde, ist allerdings ein außerordentliches Factum. Aber bis der Beweis
geführt ist, daß es unbedingt unmöglich war. wird dies keine genügende Ent¬
schuldigung sein, seine Erzählung zu verwerfen. Ein moderner Novellist ver¬
sichert uns, daß er in vierundzwanzig Stunden jene hundert Novellenseiten
erfand und schrieb, auf welchen sein ganzer literarischer Ruhm beruht, und
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[0220] welche das Katharinensloster vor Tischendorf besucht haben, nennt namentlich Shaw, Pococke und Bartes und fährt dann fort: „Ist es wahrscheinlich, daß das Tiscbendorfsche Manuscript. wenn es damals im Kloster gewesen Ware, den sorgfältigen und scharfsichtigen Blicken des Mr. Nantes entgangen sein würde? — Ja, erwidern die Sachwalter Tischendorfs, sehr leicht hätte es ihnen ent¬ gehen können, insofern es in einen alten Lappen eingewickelt war. — In einen alten Lappen! Wer hat jemals gehört, daß eine Bibelhandschrift in einem Mönchskloster in einen alten Lappen eingewickelt war? Ist das nicht ganz so unwahrscheinlich als irgend ein Theil des Geschichtchens von Simonides? Es erinnert uns an nichts so lebhaft als an Dousterswivels Schatz, der sorgfältig in eine alte Schnupftabaksdose versteckt war. Hätte es im Kloster ein Paar alte Lederhosen gegeben, kein Zweifel, daß Tischendorf sie sorgfältig nach Hand schriften untersucht hätte. Ich meinestheils glaube weder an die Erzählung von dem „Lappen", noch verwerfe ich sie. Sie ist wunderbar verdächtig, und die Versuchung zu einer Täuschung war über die Maßen groß. Aber sie ist wenigstens möglich, und so begnüge ich mich, sie in die Wagschale gegenüber dem verdächtigen Theil der Geschichte des Simonides zu werfen. Betrachten wir jetzt die Einwendungen, welche sich gegen die Erzählung den symiotiscben Doctors darbieten. Seine Landsleute sollen die kühnsten Taucher der Welt sein. Sehen wir zu, ob er bei seinem Untertauchen in den Ocean der Literatur einen symiotiscben Schwamm oder die Perle der Wahrheit aufgelesen hat. Die Einwürfe sind ernster Natur, ich gebe es zu; indeß könnten sie doch nicht gerade entscheidend sein. 1. Was das lange Schweigen des Simonides betrifft gegenüber seinem Anspruch, das angeblich alte Manuscript geschrieben zu haben, so müssen wir einige billige Rücksicht auf die hellenische und klösterliche Erziehung des Mannes und seine eigenthümlichen Idiosynkrasien nehmen. Er ist jedenfalls nicht der Erste, welcher unter ähnlichen Verhältnissen ähnlich gehandelt hat, und nach dem, was mit seinem „Uranios" passirt war, konnte er eine Art boshafter Befrie¬ digung empfinde», Deutschland sich blamiren zu sehen, die ihn veranlassen konnte, die Leute eine beträchtliche Strecke gehen zu lassen, bevor er gegen Den einschritt, der ihn damals ruinirt hatte. 2, Daß ein Buch wie der Codex Sinaiticus in zwanzig Monaten abgeschrie¬ ben wurde, ist allerdings ein außerordentliches Factum. Aber bis der Beweis geführt ist, daß es unbedingt unmöglich war. wird dies keine genügende Ent¬ schuldigung sein, seine Erzählung zu verwerfen. Ein moderner Novellist ver¬ sichert uns, daß er in vierundzwanzig Stunden jene hundert Novellenseiten erfand und schrieb, auf welchen sein ganzer literarischer Ruhm beruht, und denen er in den folgenden dreißigjährigen Arbeiten nie etwas Gleiches an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/220>, abgerufen am 22.11.2024.