Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dererwerbung der ausgedehnten polnischen Gebiete lag. die man schon einmal
besessen. Der deutsche patriotische Geist, der hier im Polle wie in den Kreisen
der Regierung herrschte, war geneigt, jedes fremde Element abzuweisen. Die
genügende Herstellung der eigenen Macht sollte durch die Pereinigung Sachsens
mit Preußen bewirkt werden, jenes Landes, das in dem gerechtesten, ja in
einem heilig geachteten Kriege in aller Form Rechtens erobert war. Gleichwohl
war es allen preußischen Staatsmännern ohne Ausnahme höchst bedenklich,
daß die Grenzen eines neuen, dem mächtigen Rußland unterworfenen Staates
der durch nichts geschulten Hauptstadt Preußens so nahe gerückt werden sollten,
wie geschehen mußte, wenn die Forderungen Alexanders in ihrem ganzen Um¬
fang erfüllt wurden. Noch größer war das Mißtrauen Oestreichs gegen die
Pläne des russischen Kaisers; denn einmal wurde durch dieselben auch für Wien
die Grenze Rußlands näher gerückt, und sodann hatte Kaiser Franz die An¬
ziehungskraft zu fürchten, welche ein neues officielles Dasein der polnischen
Nation, ein wiederhergestelltes und überdies mit einer Verfassung ausgestattetes
Königreich Polen auf die ausgedehnten polnischen Provinzen ausüben mühte,
die er besaß und jedenfalls zu behalten gedachte.

Am entschiedensten aber glaubte sich England berufen, den Entwürfen
Alexanders entgegenzutreten. Die dortige Tory-Regierung war der Widerpart
aller freisinnigen Regungen auf dem Festland. Der Prinz-Regent und seine
Minister fühlten sich als die Vertreter nicht sowohl des englischen Volkes, als
der englischen Aristokratie. Standesmitgcsühl und Rücksicht auf die Bande, die
alle europäischen Interessen verbinden, machte sie folgerichtigerweise zu Vertre¬
tern der europäischen Aristokratie überhaupt, zu Schirmvögten des alten Staats¬
rechts, welches die französische Revolution umgestoßen, zu Führern der Reaction.
Ihr Ziel, der Preis des Sieges über Napoleon, in dem sie die Revolution be¬
kämpft hatten, war möglichste Wiederherstellung der alten Zustände und Ver¬
hältnisse. Der Einführung parlamentarischer Verfassungen auf dem Continent
waren sie durchaus abgeneigt. In Alexander sahen sie der Haltung gemäß,
die er bei Beginn des wiener Congresses angenommen, das Haupt einer Gegen¬
partei. Seine Ansprüche auf eine gebietende Stelle in Europa wurden ihnen
durch die Gunst, die er dem Liberalismus zuwendete, doppelt bedenklich. Dazu
kam. daß Alexander bei seinem Besuch in England dem Prinz-Regenten mit
Kälte, den Ministern mit kaum verhehlter Geringschätzung begegnet, den Führern
der whigistischen Opposition dagegen die größten Auszeichnungen erwiesen
hatte. War er doch so weit gegangen, sich gegen letztere eines Tages dahin
zu äußern, er werde sorgen, daß auch in Rußland "un to^el' Ä'oppositimr"
entstünde. Waren die englischen Staatsmänner im Allgemeinen mißgestimmt
gegen Alexander, so fürchteten sie, was Polen betrifft, die Vergrößerung der
Mischen Macht, ihr Vorrücken nach der Mitte Europas und als Folge, daß


dererwerbung der ausgedehnten polnischen Gebiete lag. die man schon einmal
besessen. Der deutsche patriotische Geist, der hier im Polle wie in den Kreisen
der Regierung herrschte, war geneigt, jedes fremde Element abzuweisen. Die
genügende Herstellung der eigenen Macht sollte durch die Pereinigung Sachsens
mit Preußen bewirkt werden, jenes Landes, das in dem gerechtesten, ja in
einem heilig geachteten Kriege in aller Form Rechtens erobert war. Gleichwohl
war es allen preußischen Staatsmännern ohne Ausnahme höchst bedenklich,
daß die Grenzen eines neuen, dem mächtigen Rußland unterworfenen Staates
der durch nichts geschulten Hauptstadt Preußens so nahe gerückt werden sollten,
wie geschehen mußte, wenn die Forderungen Alexanders in ihrem ganzen Um¬
fang erfüllt wurden. Noch größer war das Mißtrauen Oestreichs gegen die
Pläne des russischen Kaisers; denn einmal wurde durch dieselben auch für Wien
die Grenze Rußlands näher gerückt, und sodann hatte Kaiser Franz die An¬
ziehungskraft zu fürchten, welche ein neues officielles Dasein der polnischen
Nation, ein wiederhergestelltes und überdies mit einer Verfassung ausgestattetes
Königreich Polen auf die ausgedehnten polnischen Provinzen ausüben mühte,
die er besaß und jedenfalls zu behalten gedachte.

Am entschiedensten aber glaubte sich England berufen, den Entwürfen
Alexanders entgegenzutreten. Die dortige Tory-Regierung war der Widerpart
aller freisinnigen Regungen auf dem Festland. Der Prinz-Regent und seine
Minister fühlten sich als die Vertreter nicht sowohl des englischen Volkes, als
der englischen Aristokratie. Standesmitgcsühl und Rücksicht auf die Bande, die
alle europäischen Interessen verbinden, machte sie folgerichtigerweise zu Vertre¬
tern der europäischen Aristokratie überhaupt, zu Schirmvögten des alten Staats¬
rechts, welches die französische Revolution umgestoßen, zu Führern der Reaction.
Ihr Ziel, der Preis des Sieges über Napoleon, in dem sie die Revolution be¬
kämpft hatten, war möglichste Wiederherstellung der alten Zustände und Ver¬
hältnisse. Der Einführung parlamentarischer Verfassungen auf dem Continent
waren sie durchaus abgeneigt. In Alexander sahen sie der Haltung gemäß,
die er bei Beginn des wiener Congresses angenommen, das Haupt einer Gegen¬
partei. Seine Ansprüche auf eine gebietende Stelle in Europa wurden ihnen
durch die Gunst, die er dem Liberalismus zuwendete, doppelt bedenklich. Dazu
kam. daß Alexander bei seinem Besuch in England dem Prinz-Regenten mit
Kälte, den Ministern mit kaum verhehlter Geringschätzung begegnet, den Führern
der whigistischen Opposition dagegen die größten Auszeichnungen erwiesen
hatte. War er doch so weit gegangen, sich gegen letztere eines Tages dahin
zu äußern, er werde sorgen, daß auch in Rußland „un to^el' Ä'oppositimr"
entstünde. Waren die englischen Staatsmänner im Allgemeinen mißgestimmt
gegen Alexander, so fürchteten sie, was Polen betrifft, die Vergrößerung der
Mischen Macht, ihr Vorrücken nach der Mitte Europas und als Folge, daß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0093" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116021"/>
          <p xml:id="ID_336" prev="#ID_335"> dererwerbung der ausgedehnten polnischen Gebiete lag. die man schon einmal<lb/>
besessen. Der deutsche patriotische Geist, der hier im Polle wie in den Kreisen<lb/>
der Regierung herrschte, war geneigt, jedes fremde Element abzuweisen. Die<lb/>
genügende Herstellung der eigenen Macht sollte durch die Pereinigung Sachsens<lb/>
mit Preußen bewirkt werden, jenes Landes, das in dem gerechtesten, ja in<lb/>
einem heilig geachteten Kriege in aller Form Rechtens erobert war. Gleichwohl<lb/>
war es allen preußischen Staatsmännern ohne Ausnahme höchst bedenklich,<lb/>
daß die Grenzen eines neuen, dem mächtigen Rußland unterworfenen Staates<lb/>
der durch nichts geschulten Hauptstadt Preußens so nahe gerückt werden sollten,<lb/>
wie geschehen mußte, wenn die Forderungen Alexanders in ihrem ganzen Um¬<lb/>
fang erfüllt wurden. Noch größer war das Mißtrauen Oestreichs gegen die<lb/>
Pläne des russischen Kaisers; denn einmal wurde durch dieselben auch für Wien<lb/>
die Grenze Rußlands näher gerückt, und sodann hatte Kaiser Franz die An¬<lb/>
ziehungskraft zu fürchten, welche ein neues officielles Dasein der polnischen<lb/>
Nation, ein wiederhergestelltes und überdies mit einer Verfassung ausgestattetes<lb/>
Königreich Polen auf die ausgedehnten polnischen Provinzen ausüben mühte,<lb/>
die er besaß und jedenfalls zu behalten gedachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_337" next="#ID_338"> Am entschiedensten aber glaubte sich England berufen, den Entwürfen<lb/>
Alexanders entgegenzutreten. Die dortige Tory-Regierung war der Widerpart<lb/>
aller freisinnigen Regungen auf dem Festland. Der Prinz-Regent und seine<lb/>
Minister fühlten sich als die Vertreter nicht sowohl des englischen Volkes, als<lb/>
der englischen Aristokratie. Standesmitgcsühl und Rücksicht auf die Bande, die<lb/>
alle europäischen Interessen verbinden, machte sie folgerichtigerweise zu Vertre¬<lb/>
tern der europäischen Aristokratie überhaupt, zu Schirmvögten des alten Staats¬<lb/>
rechts, welches die französische Revolution umgestoßen, zu Führern der Reaction.<lb/>
Ihr Ziel, der Preis des Sieges über Napoleon, in dem sie die Revolution be¬<lb/>
kämpft hatten, war möglichste Wiederherstellung der alten Zustände und Ver¬<lb/>
hältnisse. Der Einführung parlamentarischer Verfassungen auf dem Continent<lb/>
waren sie durchaus abgeneigt. In Alexander sahen sie der Haltung gemäß,<lb/>
die er bei Beginn des wiener Congresses angenommen, das Haupt einer Gegen¬<lb/>
partei. Seine Ansprüche auf eine gebietende Stelle in Europa wurden ihnen<lb/>
durch die Gunst, die er dem Liberalismus zuwendete, doppelt bedenklich. Dazu<lb/>
kam. daß Alexander bei seinem Besuch in England dem Prinz-Regenten mit<lb/>
Kälte, den Ministern mit kaum verhehlter Geringschätzung begegnet, den Führern<lb/>
der whigistischen Opposition dagegen die größten Auszeichnungen erwiesen<lb/>
hatte. War er doch so weit gegangen, sich gegen letztere eines Tages dahin<lb/>
zu äußern, er werde sorgen, daß auch in Rußland &#x201E;un to^el' Ä'oppositimr"<lb/>
entstünde. Waren die englischen Staatsmänner im Allgemeinen mißgestimmt<lb/>
gegen Alexander, so fürchteten sie, was Polen betrifft, die Vergrößerung der<lb/>
Mischen Macht, ihr Vorrücken nach der Mitte Europas und als Folge, daß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0093] dererwerbung der ausgedehnten polnischen Gebiete lag. die man schon einmal besessen. Der deutsche patriotische Geist, der hier im Polle wie in den Kreisen der Regierung herrschte, war geneigt, jedes fremde Element abzuweisen. Die genügende Herstellung der eigenen Macht sollte durch die Pereinigung Sachsens mit Preußen bewirkt werden, jenes Landes, das in dem gerechtesten, ja in einem heilig geachteten Kriege in aller Form Rechtens erobert war. Gleichwohl war es allen preußischen Staatsmännern ohne Ausnahme höchst bedenklich, daß die Grenzen eines neuen, dem mächtigen Rußland unterworfenen Staates der durch nichts geschulten Hauptstadt Preußens so nahe gerückt werden sollten, wie geschehen mußte, wenn die Forderungen Alexanders in ihrem ganzen Um¬ fang erfüllt wurden. Noch größer war das Mißtrauen Oestreichs gegen die Pläne des russischen Kaisers; denn einmal wurde durch dieselben auch für Wien die Grenze Rußlands näher gerückt, und sodann hatte Kaiser Franz die An¬ ziehungskraft zu fürchten, welche ein neues officielles Dasein der polnischen Nation, ein wiederhergestelltes und überdies mit einer Verfassung ausgestattetes Königreich Polen auf die ausgedehnten polnischen Provinzen ausüben mühte, die er besaß und jedenfalls zu behalten gedachte. Am entschiedensten aber glaubte sich England berufen, den Entwürfen Alexanders entgegenzutreten. Die dortige Tory-Regierung war der Widerpart aller freisinnigen Regungen auf dem Festland. Der Prinz-Regent und seine Minister fühlten sich als die Vertreter nicht sowohl des englischen Volkes, als der englischen Aristokratie. Standesmitgcsühl und Rücksicht auf die Bande, die alle europäischen Interessen verbinden, machte sie folgerichtigerweise zu Vertre¬ tern der europäischen Aristokratie überhaupt, zu Schirmvögten des alten Staats¬ rechts, welches die französische Revolution umgestoßen, zu Führern der Reaction. Ihr Ziel, der Preis des Sieges über Napoleon, in dem sie die Revolution be¬ kämpft hatten, war möglichste Wiederherstellung der alten Zustände und Ver¬ hältnisse. Der Einführung parlamentarischer Verfassungen auf dem Continent waren sie durchaus abgeneigt. In Alexander sahen sie der Haltung gemäß, die er bei Beginn des wiener Congresses angenommen, das Haupt einer Gegen¬ partei. Seine Ansprüche auf eine gebietende Stelle in Europa wurden ihnen durch die Gunst, die er dem Liberalismus zuwendete, doppelt bedenklich. Dazu kam. daß Alexander bei seinem Besuch in England dem Prinz-Regenten mit Kälte, den Ministern mit kaum verhehlter Geringschätzung begegnet, den Führern der whigistischen Opposition dagegen die größten Auszeichnungen erwiesen hatte. War er doch so weit gegangen, sich gegen letztere eines Tages dahin zu äußern, er werde sorgen, daß auch in Rußland „un to^el' Ä'oppositimr" entstünde. Waren die englischen Staatsmänner im Allgemeinen mißgestimmt gegen Alexander, so fürchteten sie, was Polen betrifft, die Vergrößerung der Mischen Macht, ihr Vorrücken nach der Mitte Europas und als Folge, daß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/93
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/93>, abgerufen am 15.01.2025.