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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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nicht "spazieren gehen" könnte. Und da ist kein Baum, der nicht wirklich wächst
und zwar aus dem Terrain hervorwächst, auf dem er steht; kein Fels, der un"
motivirt oder gar auf unmögliche Weise aus der Masse hervortritt, keine
Welle, deren Bewegung nicht überzeugend und wahr wäre. Bei aller Freiheit,
ja aller Kühnheit in den Gestaltungen ist auf diese Weise doch der Eindruck der
Nothwendigkeit in diesen Compositionen erreicht, welcher eben unmittelbar
überzeugend wirkt und jedes Bedenken verstummen macht.

Aber, wenn diese Landschaften als solche vortrefflich sind und auf der Höhe
der Kunst stehen, so fragen wir zuletzt noch, und mit Recht, ob es denn auch
homerische seien. Man darf diese Frage nicht als das Verlangen verstehen,
daß jeder Beschauer, der die Odyssee gelesen hat, auch wenn ihm die Figuren
verdeckt würden, zu erkennen wüßte, daß hier Me homerische Welt gemeint
sei, ja wo möglich die Scene zu nennen vermöchte, für die der Künstler das be¬
zügliche Bild erfunden hat. Dieses Verlangen wäre etwa ebenso verkehrt, wie
dasjenige, daß die Musik den zum Grunde liegenden Text seinem allgemeinen
oder gar seinem speciellen Inhalte nach ausdrücken solle. Die Probe würde
eben da so wenig, wie hier treffen. Aber wir fragen, ob das Landschaften
sind, in die wir homerische Helden, in die wir eine ideale Menschheit und ihr
Treiben hineinzudenken vermögen; ob es nicht blos Willkür ist, wenn statt
eines neapolitanischen Eseltreibers oder einer spinnenden Albanerin mit ihrem
unvermeidlichen Schweinchen, Gestalten von Helden und Göttern unter diesen
Bäumen wandeln; und diese Frage ist keineswegs eine übertriebene. Es ist
unzählige Male bemerkt worden, daß Paul Veronese seine heiligen Geschichten
von den zeitgenössischen Venetianern und Venetianerinnen aufführen läßt; das
liegt nicht nur an dem Costüm, es zeigt sich ebenso auch in den Physiogno¬
mien und Bewegungen. Wer denkt dagegen bei Rafaels oder Michelangelos
Gestalten an die Italiener ihrer Zeit? Es ist für uns gleichgiltig zu fragen,
ob die Menschen zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen sind; genug, daß
sie verschieden erschienen sind, und ein Gleiches gilt von der Natur nicht min¬
der. Aber es gibt schöpferische Geister, deren Blick durch diesen wechselnden
Schein hindurch auf das Wesen dringt, und in deren Schöpfungen man nichts
gewahr wird von der Brille, durch die ihre Zeit und ihre Nation die Natur
gesehn hat. Wir dürfen Preller zu ihnen rechnen; denn es ist ihm in der That
gelungen, seine Landschaften zu erheben über das Beschränkt-Moderne zu jener
Höhe, in welcher alle die idealen Gestalten wahrer Poesie wandeln, in der auch
die homerischen Helden stehen, denen er so sinnvoll eine Stätte zu bereiten ge¬
wußt hat. Dieses ist es zugleich, was seinen Bildern den Ehrennamen "hi¬
storischer Landschaften" verleiht. Wir nennen historisch in prägnanten Sinne
überhaupt dasjenige, was nicht mit der Zeit, die es hervorgetrieben hat, unter¬
geht und nur in und für diese Bedeutung gehabt hat, sondern was gleichsam


nicht „spazieren gehen" könnte. Und da ist kein Baum, der nicht wirklich wächst
und zwar aus dem Terrain hervorwächst, auf dem er steht; kein Fels, der un»
motivirt oder gar auf unmögliche Weise aus der Masse hervortritt, keine
Welle, deren Bewegung nicht überzeugend und wahr wäre. Bei aller Freiheit,
ja aller Kühnheit in den Gestaltungen ist auf diese Weise doch der Eindruck der
Nothwendigkeit in diesen Compositionen erreicht, welcher eben unmittelbar
überzeugend wirkt und jedes Bedenken verstummen macht.

Aber, wenn diese Landschaften als solche vortrefflich sind und auf der Höhe
der Kunst stehen, so fragen wir zuletzt noch, und mit Recht, ob es denn auch
homerische seien. Man darf diese Frage nicht als das Verlangen verstehen,
daß jeder Beschauer, der die Odyssee gelesen hat, auch wenn ihm die Figuren
verdeckt würden, zu erkennen wüßte, daß hier Me homerische Welt gemeint
sei, ja wo möglich die Scene zu nennen vermöchte, für die der Künstler das be¬
zügliche Bild erfunden hat. Dieses Verlangen wäre etwa ebenso verkehrt, wie
dasjenige, daß die Musik den zum Grunde liegenden Text seinem allgemeinen
oder gar seinem speciellen Inhalte nach ausdrücken solle. Die Probe würde
eben da so wenig, wie hier treffen. Aber wir fragen, ob das Landschaften
sind, in die wir homerische Helden, in die wir eine ideale Menschheit und ihr
Treiben hineinzudenken vermögen; ob es nicht blos Willkür ist, wenn statt
eines neapolitanischen Eseltreibers oder einer spinnenden Albanerin mit ihrem
unvermeidlichen Schweinchen, Gestalten von Helden und Göttern unter diesen
Bäumen wandeln; und diese Frage ist keineswegs eine übertriebene. Es ist
unzählige Male bemerkt worden, daß Paul Veronese seine heiligen Geschichten
von den zeitgenössischen Venetianern und Venetianerinnen aufführen läßt; das
liegt nicht nur an dem Costüm, es zeigt sich ebenso auch in den Physiogno¬
mien und Bewegungen. Wer denkt dagegen bei Rafaels oder Michelangelos
Gestalten an die Italiener ihrer Zeit? Es ist für uns gleichgiltig zu fragen,
ob die Menschen zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen sind; genug, daß
sie verschieden erschienen sind, und ein Gleiches gilt von der Natur nicht min¬
der. Aber es gibt schöpferische Geister, deren Blick durch diesen wechselnden
Schein hindurch auf das Wesen dringt, und in deren Schöpfungen man nichts
gewahr wird von der Brille, durch die ihre Zeit und ihre Nation die Natur
gesehn hat. Wir dürfen Preller zu ihnen rechnen; denn es ist ihm in der That
gelungen, seine Landschaften zu erheben über das Beschränkt-Moderne zu jener
Höhe, in welcher alle die idealen Gestalten wahrer Poesie wandeln, in der auch
die homerischen Helden stehen, denen er so sinnvoll eine Stätte zu bereiten ge¬
wußt hat. Dieses ist es zugleich, was seinen Bildern den Ehrennamen „hi¬
storischer Landschaften" verleiht. Wir nennen historisch in prägnanten Sinne
überhaupt dasjenige, was nicht mit der Zeit, die es hervorgetrieben hat, unter¬
geht und nur in und für diese Bedeutung gehabt hat, sondern was gleichsam


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[0399] nicht „spazieren gehen" könnte. Und da ist kein Baum, der nicht wirklich wächst und zwar aus dem Terrain hervorwächst, auf dem er steht; kein Fels, der un» motivirt oder gar auf unmögliche Weise aus der Masse hervortritt, keine Welle, deren Bewegung nicht überzeugend und wahr wäre. Bei aller Freiheit, ja aller Kühnheit in den Gestaltungen ist auf diese Weise doch der Eindruck der Nothwendigkeit in diesen Compositionen erreicht, welcher eben unmittelbar überzeugend wirkt und jedes Bedenken verstummen macht. Aber, wenn diese Landschaften als solche vortrefflich sind und auf der Höhe der Kunst stehen, so fragen wir zuletzt noch, und mit Recht, ob es denn auch homerische seien. Man darf diese Frage nicht als das Verlangen verstehen, daß jeder Beschauer, der die Odyssee gelesen hat, auch wenn ihm die Figuren verdeckt würden, zu erkennen wüßte, daß hier Me homerische Welt gemeint sei, ja wo möglich die Scene zu nennen vermöchte, für die der Künstler das be¬ zügliche Bild erfunden hat. Dieses Verlangen wäre etwa ebenso verkehrt, wie dasjenige, daß die Musik den zum Grunde liegenden Text seinem allgemeinen oder gar seinem speciellen Inhalte nach ausdrücken solle. Die Probe würde eben da so wenig, wie hier treffen. Aber wir fragen, ob das Landschaften sind, in die wir homerische Helden, in die wir eine ideale Menschheit und ihr Treiben hineinzudenken vermögen; ob es nicht blos Willkür ist, wenn statt eines neapolitanischen Eseltreibers oder einer spinnenden Albanerin mit ihrem unvermeidlichen Schweinchen, Gestalten von Helden und Göttern unter diesen Bäumen wandeln; und diese Frage ist keineswegs eine übertriebene. Es ist unzählige Male bemerkt worden, daß Paul Veronese seine heiligen Geschichten von den zeitgenössischen Venetianern und Venetianerinnen aufführen läßt; das liegt nicht nur an dem Costüm, es zeigt sich ebenso auch in den Physiogno¬ mien und Bewegungen. Wer denkt dagegen bei Rafaels oder Michelangelos Gestalten an die Italiener ihrer Zeit? Es ist für uns gleichgiltig zu fragen, ob die Menschen zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen sind; genug, daß sie verschieden erschienen sind, und ein Gleiches gilt von der Natur nicht min¬ der. Aber es gibt schöpferische Geister, deren Blick durch diesen wechselnden Schein hindurch auf das Wesen dringt, und in deren Schöpfungen man nichts gewahr wird von der Brille, durch die ihre Zeit und ihre Nation die Natur gesehn hat. Wir dürfen Preller zu ihnen rechnen; denn es ist ihm in der That gelungen, seine Landschaften zu erheben über das Beschränkt-Moderne zu jener Höhe, in welcher alle die idealen Gestalten wahrer Poesie wandeln, in der auch die homerischen Helden stehen, denen er so sinnvoll eine Stätte zu bereiten ge¬ wußt hat. Dieses ist es zugleich, was seinen Bildern den Ehrennamen „hi¬ storischer Landschaften" verleiht. Wir nennen historisch in prägnanten Sinne überhaupt dasjenige, was nicht mit der Zeit, die es hervorgetrieben hat, unter¬ geht und nur in und für diese Bedeutung gehabt hat, sondern was gleichsam

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/399>, abgerufen am 15.01.2025.