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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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der dunklen allgemeinen Stimmung des Geschlechtes verwachsen und von der
Strenge des geschichtlichen Verlaufes gebunden ist, kann noch weniger wie jede
andere mittelst individueller Einfälle und Combinationen einen neuen Stil er¬
finden. Jeder derartige Versuch kann nur zu einem Phantasie- und verständni߬
losen Flickwerk führen, das maskenhaft die verschiedenartigsten Elemente der
vergangenen Stile, aus ihrem organischen Zusammenhang gerissen, durch-
einanderwirft, zudem in der Erscheinung die statischen Bedingungen wie die
structiven Gesetze Lügen straft und mit einem kindischen verzerrten Arabesken-
spiele sich ein künstlerisches Ansehen zu geben sucht. Mehr als in jeder andern
Kunst ist in der Architektur die Gegenwart auf ein eingehendes Studium der
Vergangenheit angewiesen, um den Stil zu lebendiger Fortbildung aufzuneh¬
men, der die Ansprüche unseres Lebens am besten zu erfüllen vermag und mit
unserer Anschauung in einem innigen verwandten Verhältniß steht.

Nachdem es unser Jahrhundert zuerst mit der antiken Bauweise nicht ohne
Glück und mit Verständniß versucht hat, ohne indessen ihre structiven Formen
den modernen Bedürfnissen ganz anpassen und mit künstlerischer Freiheit ge¬
brauchen zu können, dann weniger glücklich, meist ohne Talent und ohne Ge¬
schmack mit der romanischen, die dann auch ein Fremdling geblieben ist: hat
man neuerdings den gothischen Stil hervorgeholt, um ihn als die "echt natio¬
nale Bauart" nicht allein für den Kirchenbau, sondern auch für öffentliche und
Privatzwecke in den mannigfaltigsten Combinationen zu verwerthen. Wir'
wollen hier davon absehen, daß die Vorliebe für die Gothik in einer sehr
dumpfen Epoche des modernen deutschen Lebens wurzelt, in der die Romantik
mit künstlicher und schwachherziger Begeisterung in die dunkle gebundene Stim¬
mung des Mittelalters umkehrte und damit zugleich in die Reaction einlenkte.
Allein das sollte man doch endlich aufgeben, dem klaren Ergebniß der histori¬
schen Forschung zum Trotz den Baustil, der französischen Ursprungs ist und
das französische Zeichen unverholen an der Stirne trägt, für den nationalen
auszugeben"). Ueberhaupt ist jede patriotische Absicht in der Kunst ebenso verkehrt,
wie in der Wissenschaft. Jene setzt wie diese ein Verständniß der verschie¬
denen Formen, in denen sie sich entwickelt hat, voraus und soll gerade auf
dieser Unterlage weiter bauen, das Nationale aber ist der unfaßbare lebendige
Hauch, der sich über das in die geschichtliche Kette eingereihte und künstlerisch
vollendete Werk ganz von selber legte. Was soll gar hier das Deutschthum?



Diesem groben Irrthum, den man auch jetzt noch festhalten will, wie dem über¬
schwenglichen Enthusiasmus für die Gothik überhaupt, ist neuerdings auch Wilhelm Lübke
in einem vortrefflichen, auf gründlicher Kenntniß und Einsicht beruhenden kleinen Aufsatz
"zwei deutsche Münster" (wieder abgedruckt in der Zeitschrift des Architekten, und Ingenieur-
Vereins für Hannover 1863, Heft 2 und 3.) schlagend und überzeugend entgegengetreten.

der dunklen allgemeinen Stimmung des Geschlechtes verwachsen und von der
Strenge des geschichtlichen Verlaufes gebunden ist, kann noch weniger wie jede
andere mittelst individueller Einfälle und Combinationen einen neuen Stil er¬
finden. Jeder derartige Versuch kann nur zu einem Phantasie- und verständni߬
losen Flickwerk führen, das maskenhaft die verschiedenartigsten Elemente der
vergangenen Stile, aus ihrem organischen Zusammenhang gerissen, durch-
einanderwirft, zudem in der Erscheinung die statischen Bedingungen wie die
structiven Gesetze Lügen straft und mit einem kindischen verzerrten Arabesken-
spiele sich ein künstlerisches Ansehen zu geben sucht. Mehr als in jeder andern
Kunst ist in der Architektur die Gegenwart auf ein eingehendes Studium der
Vergangenheit angewiesen, um den Stil zu lebendiger Fortbildung aufzuneh¬
men, der die Ansprüche unseres Lebens am besten zu erfüllen vermag und mit
unserer Anschauung in einem innigen verwandten Verhältniß steht.

Nachdem es unser Jahrhundert zuerst mit der antiken Bauweise nicht ohne
Glück und mit Verständniß versucht hat, ohne indessen ihre structiven Formen
den modernen Bedürfnissen ganz anpassen und mit künstlerischer Freiheit ge¬
brauchen zu können, dann weniger glücklich, meist ohne Talent und ohne Ge¬
schmack mit der romanischen, die dann auch ein Fremdling geblieben ist: hat
man neuerdings den gothischen Stil hervorgeholt, um ihn als die „echt natio¬
nale Bauart" nicht allein für den Kirchenbau, sondern auch für öffentliche und
Privatzwecke in den mannigfaltigsten Combinationen zu verwerthen. Wir'
wollen hier davon absehen, daß die Vorliebe für die Gothik in einer sehr
dumpfen Epoche des modernen deutschen Lebens wurzelt, in der die Romantik
mit künstlicher und schwachherziger Begeisterung in die dunkle gebundene Stim¬
mung des Mittelalters umkehrte und damit zugleich in die Reaction einlenkte.
Allein das sollte man doch endlich aufgeben, dem klaren Ergebniß der histori¬
schen Forschung zum Trotz den Baustil, der französischen Ursprungs ist und
das französische Zeichen unverholen an der Stirne trägt, für den nationalen
auszugeben"). Ueberhaupt ist jede patriotische Absicht in der Kunst ebenso verkehrt,
wie in der Wissenschaft. Jene setzt wie diese ein Verständniß der verschie¬
denen Formen, in denen sie sich entwickelt hat, voraus und soll gerade auf
dieser Unterlage weiter bauen, das Nationale aber ist der unfaßbare lebendige
Hauch, der sich über das in die geschichtliche Kette eingereihte und künstlerisch
vollendete Werk ganz von selber legte. Was soll gar hier das Deutschthum?



Diesem groben Irrthum, den man auch jetzt noch festhalten will, wie dem über¬
schwenglichen Enthusiasmus für die Gothik überhaupt, ist neuerdings auch Wilhelm Lübke
in einem vortrefflichen, auf gründlicher Kenntniß und Einsicht beruhenden kleinen Aufsatz
„zwei deutsche Münster" (wieder abgedruckt in der Zeitschrift des Architekten, und Ingenieur-
Vereins für Hannover 1863, Heft 2 und 3.) schlagend und überzeugend entgegengetreten.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/352>, abgerufen am 15.01.2025.