Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.die Aufgabe gestellt habe, eine Art von gesetzlich verfassungsmäßigen Regiment Daß Drusus, der zweite Sohn des Germanicus, erst zwei Jahre nach des Ein entscheidendes Moment für die Charakteristik des Tiberius scheint uns die Aufgabe gestellt habe, eine Art von gesetzlich verfassungsmäßigen Regiment Daß Drusus, der zweite Sohn des Germanicus, erst zwei Jahre nach des Ein entscheidendes Moment für die Charakteristik des Tiberius scheint uns <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115949"/> <p xml:id="ID_35" prev="#ID_34"> die Aufgabe gestellt habe, eine Art von gesetzlich verfassungsmäßigen Regiment<lb/> einzuführen und dauernd durchzuführen, in diesem Streben aber infolge der<lb/> Verderbtheit und des Knechtsinnes der römischen Aristokratie gescheitert sei; durch<lb/> diese Enttäuschung und durch die Schlechtigkeit fast aller der Menschen, mit<lb/> denen er in Berührung gekommen, sei er mehr und mehr verbittert worden und<lb/> einer trüben Stimmung verfallen, die in seinen letzten Lebensjahren zeitweise in<lb/> Irrsinn übergegangen sei. Den Grund davon, daß Tiberius bei der Nach¬<lb/> welt" in den Ruf eines finsteren Tyrannen gerathen ist, sucht Stahr in dem Hasse<lb/> des römischen Adels und in seinem verschlossenen, anmuthlosen Wesen, das die<lb/> Zeitgenossen abgestoßen habe. Sejanus, meint er, sei anfangs ein treuer<lb/> Diener des Tiberius gewesen, der erst durch die Feindschaft des Kronprinzen<lb/> Drusus für den Fall eines Regierungswechsels das Aeußerste für sich zu fürch¬<lb/> ten begonnen und, um sich zu retten, sich seiner entledigt habe, durch diesen<lb/> ersten Schritt aus der Bahn des Verbrechens weiter gedrängt worden sei und<lb/> den durch Agrippinas Umtriebe und die frevelhafte Leichtfertigkeit ihrer Söhne<lb/> herbeigeführten, daher nicht unverdienten Untergang der Familie des Germa-<lb/> nicus gezeitigt, sich jedoch bis zuletzt von einem Anschlage gegen Leben und<lb/> Thron seines Herrn ferngehalten habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_36"> Daß Drusus, der zweite Sohn des Germanicus, erst zwei Jahre nach des<lb/> Sejanus Sturze auf Befehl des Tiberius im Kerker durch Hunger getödtet<lb/> wurde, würden wir, wenn wir es nicht anderswoher wüßten, aus Stahrs Buche<lb/> nicht erfahren: er hat diesen, für das von ihm entworfene Lichtbild nicht taug¬<lb/> lichen Umstand vergessen oder verschwiegen und nimmt die in den Memoiren<lb/> des Tiberius enthaltene Versicherung, er habe den Sejanus wegen seiner Grau¬<lb/> samkeit gegen die Familie des Germanicus bestraft, für baare Münze. Man<lb/> muß gestehen, daß jene Thatsache der Selbstbiographie einen bedenklich apologe¬<lb/> tischen Charakter aufprägt und damit auch die Aufrichtigkeit des Tiberius in<lb/> etwas zweideutigem Lichte erscheinen läßt.</p><lb/> <p xml:id="ID_37" next="#ID_38"> Ein entscheidendes Moment für die Charakteristik des Tiberius scheint uns<lb/> sein Verhalten beim Sturze des Sejanus zu sein; sein bewunderungswürdiges<lb/> Vorgehen, durch welches er hier den stärkeren Gegner langsam beschleicht, um<lb/> endlich mit Blitzesschnelle den entscheidenden Schlag zu führen, ist ebensosehr<lb/> über jedes Lob erhaben als gerechtfertigt durch das Gebot der Selbsterhaltung.<lb/> Aber läßt sich dabei verkennen, daß so kein Neuling, sondern nur ein vollende¬<lb/> ter Meister in der Verstellungskunst spielen kann? Läßt es sich verkennen, daß<lb/> Tiberius auf diesem Felde nicht blos mit Virtuosität, sondern mit augenschein¬<lb/> licher Lust und Liebe zur Sache arbeitet? daß er mit Sejanus spielt, wie die<lb/> Katze mit der Maus? — Und nun bedenke man, unter welchen Verhältnissen<lb/> Tiberius aufwuchs! Bis an das Ende des Mannesalters sich von allen Seiten<lb/> belauert wissend, genöthigt, jeden seiner Schritte sorgsam zu bemessen: es</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
die Aufgabe gestellt habe, eine Art von gesetzlich verfassungsmäßigen Regiment
einzuführen und dauernd durchzuführen, in diesem Streben aber infolge der
Verderbtheit und des Knechtsinnes der römischen Aristokratie gescheitert sei; durch
diese Enttäuschung und durch die Schlechtigkeit fast aller der Menschen, mit
denen er in Berührung gekommen, sei er mehr und mehr verbittert worden und
einer trüben Stimmung verfallen, die in seinen letzten Lebensjahren zeitweise in
Irrsinn übergegangen sei. Den Grund davon, daß Tiberius bei der Nach¬
welt" in den Ruf eines finsteren Tyrannen gerathen ist, sucht Stahr in dem Hasse
des römischen Adels und in seinem verschlossenen, anmuthlosen Wesen, das die
Zeitgenossen abgestoßen habe. Sejanus, meint er, sei anfangs ein treuer
Diener des Tiberius gewesen, der erst durch die Feindschaft des Kronprinzen
Drusus für den Fall eines Regierungswechsels das Aeußerste für sich zu fürch¬
ten begonnen und, um sich zu retten, sich seiner entledigt habe, durch diesen
ersten Schritt aus der Bahn des Verbrechens weiter gedrängt worden sei und
den durch Agrippinas Umtriebe und die frevelhafte Leichtfertigkeit ihrer Söhne
herbeigeführten, daher nicht unverdienten Untergang der Familie des Germa-
nicus gezeitigt, sich jedoch bis zuletzt von einem Anschlage gegen Leben und
Thron seines Herrn ferngehalten habe.
Daß Drusus, der zweite Sohn des Germanicus, erst zwei Jahre nach des
Sejanus Sturze auf Befehl des Tiberius im Kerker durch Hunger getödtet
wurde, würden wir, wenn wir es nicht anderswoher wüßten, aus Stahrs Buche
nicht erfahren: er hat diesen, für das von ihm entworfene Lichtbild nicht taug¬
lichen Umstand vergessen oder verschwiegen und nimmt die in den Memoiren
des Tiberius enthaltene Versicherung, er habe den Sejanus wegen seiner Grau¬
samkeit gegen die Familie des Germanicus bestraft, für baare Münze. Man
muß gestehen, daß jene Thatsache der Selbstbiographie einen bedenklich apologe¬
tischen Charakter aufprägt und damit auch die Aufrichtigkeit des Tiberius in
etwas zweideutigem Lichte erscheinen läßt.
Ein entscheidendes Moment für die Charakteristik des Tiberius scheint uns
sein Verhalten beim Sturze des Sejanus zu sein; sein bewunderungswürdiges
Vorgehen, durch welches er hier den stärkeren Gegner langsam beschleicht, um
endlich mit Blitzesschnelle den entscheidenden Schlag zu führen, ist ebensosehr
über jedes Lob erhaben als gerechtfertigt durch das Gebot der Selbsterhaltung.
Aber läßt sich dabei verkennen, daß so kein Neuling, sondern nur ein vollende¬
ter Meister in der Verstellungskunst spielen kann? Läßt es sich verkennen, daß
Tiberius auf diesem Felde nicht blos mit Virtuosität, sondern mit augenschein¬
licher Lust und Liebe zur Sache arbeitet? daß er mit Sejanus spielt, wie die
Katze mit der Maus? — Und nun bedenke man, unter welchen Verhältnissen
Tiberius aufwuchs! Bis an das Ende des Mannesalters sich von allen Seiten
belauert wissend, genöthigt, jeden seiner Schritte sorgsam zu bemessen: es
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